M A. staats-rechtliche
Entscheidungen. ll]. Abschnitt. Kantonsverfassnngen.
Dritter Abschnitt. Troisième section.
Kantonsverfassungen.
Conslitutions cantonales.
I. Kompetenzüberschreitungen kantonaler Behörden. Abus de compétence
des autorités cantonales.
4.2. Urteil vom 2. April 1903 in Sachen Einwohnergemeinde Viel
und Konsorten gegen Polizeikammer des beruischen Appellationsund
Kassationshofes.
Bei-um gegen ein Strafezrteil, das der Ueberèretmg einer
Gemeindeverordnung betreffend Sonntagsruke Arzgeklagle freigesprochen kat
mit der Begründung, jene Verordnung sei vez-fassungswidrig. Legitimation
zum Rekurse, Art. 178 Ziff. 2 Org.-Ges.
Das Bundesgericht hat, nachdem sich aus den Akten ergeben:
A. Am 7. Januar 1901 erliess der Gemeinderat der Stadt Biel
eine Wer-ordnung über die Schliessung der Verkauf-Magazine, der
Coiffeurgeschäfte, den Verkauf den Zeitungen, Früchten und Blumen zc. auf
den öffentlichen Strassen und Plätzen an Sonnund Feiertagen." Dieser
Verordnung, beziehungsweise einer spätern Revision derselben vom 15. Mai
1901, erteilte derI. Kompecenzfiberschreitungen kantonaler Behörden. No
42_ 291
Regierungsrat des Kantons Bern am 22. Januar 1901, bezw. am 2. April 1902,
die Genehmigung Wegen Ubertretuug des darin enthaltenen und unter Strafe
gestellten Verbotes, die Geschäftslokale zu gewissen Stunden an Sonnund
Feiertagen offen zu halten, wurden sieben Geschäftsleute der Stadt Biel
(Uhrenhändler Fritz Gygax und KonsortenJ dem Polizeiinspektorat Biel
verzeigt und, da sie dem Urteile dieser Behörde sich nicht unterzogen,
vom Regierungsftatthalter dem Richteramt Viel überwiesen. Am 23. Mai
1902 sprach diese Instanz die Angeklagten von Schuld und Strafe frei
mit der Begründung, die von ihnen übertretene Verordnung sei nicht aus
verfassungsmässigem Wege zu stande gekommen und deshalb unanwendbar
Gegen diesen Entscheid erklärte der Staatsanwalt die Appellation an
die Polizeikammer, welche indessen mit Urteil vom 15. Oktober 1902 den
ersiinstanzlichen Freispruch bestätigte Auch dieses Urteil verneint die
Verfassungsmässigkeit der genannten Verordnung und zwar stellt es hiesür
daraus ab, dass die von ihr geschützten Interessen alle Staatsbiirger
und nicht nur diejenigen einer bestimmten Gemeinde berühren und deshalb
einen allgemein gültigen Schutz auf dem Wege der Gesetzgebung erheischen,
welchen Weg der den Grundsatz der Sonntagsruhe sanktionierende Art. 82
der kantonalen Verfassung auch eingeschlagen wissen wolle. Aus den
Bestimmungen , auf weiche neben am. 82 cit. die streitige Verordnung
gestützt werde, nämlich aus Art. 7 des Gemeindegesetzes von 1852,
der lediglich von der Ortspolizei handle, und Art. 30 litt-. B C des
Gemeindereglements der Stadt Biel vom Jahre 1893, lasse sich das Recht
der Gemeinden zur Aufstellung von Vorschriften über die Sonntags-ruhe
nicht herleiten. Sei aber-die Gemeinde Biel zum Erlass der angefochtenen
Verordnung vergifsungsmässig nicht kompetent gewesen, so dürfe eine
firafrechtltche Verurteilung nicht ausgesprochen werden-, da nach Art. 2
des St.-G.-B. eine Handlung oder Unterlassung nur bestraft werden dürfe,
wenn sie durch verfassungsmässige Gesetze oder Verordnungen mit Strafe
bedroht war. '
B. Gegen diesen Entscheid der Polizeikammer und mit dem Begehren auf
Aufhebung desselben haben zusammen einerseits die Einwohnergemeinde Viel,
vertreten durch ihren Gemeinderat, an-
202 A. staats-rechtliche Entscheidungen. lll. Abschnitt,
Kantonsverfassungen.
derseits Dr. Courvoisier, Fürsprecher in Biel, mit acht andern
stimmsähigen Einwohnern der Gemeinde Biel dem Bundesgericht die
vorliegende staats-rechtliche Beschwerde eingereicht. Die Freisprechung
der Angeklagten Gygax und Konsorten, machen die Beschwerdesührer
geltend, involviere eine Kompetenzüberschreitung der Polizeikammer,
charakterisiere sich als eine Rechtsverweigerung und verletze auch
sonstige verfassungsmässige Rechte der Rekurrenten. Jnfonderheit seien
die Art. 4 der Bundesverfassung und 110, Ml, 72, 71, 67, 38, 86 und 10
der bernischen Staatsverfassung als verletzt zu bezeichnen.
Bezüglich der Aktivlegitimation der Beschwerdeführer wird-bemerkt: Die
Einwohnergemeinde Biel, vertreten durch ihren Einwohnergemeinderat,
erachte sich auf Grund von Art. 178 Org.Ges. für legitimiert. Der
Entscheid der Polizeikammer annuliere nicht nur im besondern Falle
gegenüber den Angezeigten Gygax und Konsorten die fragliche Verordnung,
sondern verletze die Einwohnergemeinde in ihrer Autonomie und in ihren
verfassungsmässigen Rechten (Art. 63 ff. der kantonalen Verfassung). Die
Gemeinde Biel könne keine Verordnung aufrecht erhalten, wenn dieselbe
von den Gerichten nicht geschützt werde. Es charakterisiere sich der
angefochtene Entscheid als ein Übergriff der richterlichen Gewalt
gegenüber der Gemeindebehörde Biel resp. dem Regierungsrate; er habe
somit de facto die Natur eines allgemein verbindlichen Erlasses und
erscheine zugleich als eine die Einwohnergemeinde Biel als solche und sie
persönlich verletzende Verfügung. Dass die Polizeikammer ihre Judikatur in
absehbarer Zeit ändern werde, sei ja nicht anzunehmen Hienach aber könne
die Gemeinde mit Grund behaupten, dass ein ihr zustehendes subjektives
Recht (an Reglementierung der Sonntagspolizei) in seiner Verwirklichung
gehemmt worden sei. Denn nach der kantonalen Gesetzgebung (am. 71 K-.V
zc.) sei ihr die Handhabung der Ortspolizei in Sachen des Sonntags
ze. Überlassen und zu diesem Behufe eine rechtliche Macht zuerkannt. Die
Geltendmachung dieser Macht sei auch rechtlich möglich, das subjektive
Recht Biels realisierbar. Die andern Beschwerdeführer sodann seien durch
den angefochtenen Entscheid in ihren persönlichen Rechten als Bürger,
d. h. Träger politischer Rechte in der Gemeinde Biel Verletzt. Jndem
man dem Gemeinderat von Biel]. Kompetenziîberschreitungen kantonaler
Behörden. N° 42. 203
als indirektem Träger und Vertreter des Bielervolkes Rechte abgesprochen,
seien diese Bürger in der verfassungsmässig gewähr- leisteten
Ausübung ihres Selbstbestimmungs: und Verwaltungsrechtes der Gemeinde-
beschränkt. Ein Teil derselben erleide zugleich eine Schädigung in ihren
materiellen und ethischen Interessen, insofern sie wegen der praktischen
Undurchführbarkeit des vereinzelten Ladenschlusses zum Offenlassen ihrer
Laden an Sonnund Feiertagen gezwungen seien.
G. Die Polizeikammer des bernischen Appellationsund Kassationshofes
beantragt in erster Linie, auf den Rekurs mangels Legitimation der
Rekurrenten zur Beschwerdeführung nicht einzutreten, ebentuell ihn als
Unbegründet abzuweisen Hinsichtlich des Hauptantrages führt sie des nähern
aus: Das angefochtene Urteil stelle keinen allgemein verbindliche-n
Erlass dar und betreffe auch die Rekurrenten nicht persönlich, da
diesen im fraglichen Strafversahren keine Parteistellung zugekommen
und sie durch das Urteil nicht direkt berührt worden seien. Letzteres
spreche eine Aufhebung der fraglichen Verordnung auch nicht aus. Jn
einem verfassungsmässigen Rechte sei die Gemeinde Biel nicht verletzt.
Jedenfalls siehe dem Gemeinderat, der als Gemeindebehörde kein Recht der
Persönlichkeit besitze, ein Recht zur Beschwerdesührung nicht zu, und
unter keinen Umständen werde die Rechtsstellung der einzelnen Rekurrenten
als Bürger durch die Verneinung der Befugnis zur Reglementierung der
Sonntagsruhe in einer zur Beschwerdeführung legitimierenden Weise
berührt; --
in Erw ägung:
î. Die Rekurrenten behaupten, das angefochtene Urteil stehe in
Widerspruch mit Art. 4 der Bundesund verschiedenen Artikeln der kantonalen
Verfassung. Man hat es also mit einer Be-
ss schwerde wegen Verletzung von Verfassungsrecht zu tun, so
dass der Materie nach die Kompetenz des Bundesgerichts zur Behandlung
der Beschwerde zweifelsohne gegeben ist, was die rekursbeklagte Behörde
denn auch nicht bestritten hat.
2. Dagegen frägt es sich und ist unter den Parteien namentlich streitig,
ob den Rekurrenten das Recht zur Beschwerdeführung im Sinne des Art. 178
Ziffer 2 des Organisationsgesetzes zustehe. Hierüber nun ist im einzelnen
zu sagen:
a. Als beschwerdeberechtigt bezeichnet die genannte Bestimmung
M A. Staatsrechtliche Entscheidungen. III. Abschnitt. Kantonsverfassungen.
nicht nur die einzelnen Viirger (Private), d. h. physische Personen,
sondern auch Korporationen, d. h. juristische Perso- nen. Hievon ausgehend
hat denn auch die Praxis seit jeher den Gemeinden als Korporationen
des öffentlichen Rechtes die Befugnis zur Beschwerdeführung zuerkannt,
namentlich auch wenn, wie hier behauptet wird, eine Verletzung der
ihnen verfassungsmässig eingeräumten Autonomie in Frage stand. Als
verfehlt erscheint es auch, wenn die Polizeikammer bei Erörterung der
Legitimatioussrage geltend macht, es stehe dem Gemeinderate von Biel;
der als Gemeindebehörde kein Recht der Persönlichkeit besitze, auch kein
Recht zur Beschwerdeführung zu. Denn der Gemeinderat tritt ja nicht im
eigenen Namen als Rekurrent auf, sondern als Vertreter der (nach dem
Gesagten zum Rekurse legitimierten) Gemeinde
Jn der genannten Beziehung, d. h. hinsichtlich der subjektiven
Voraussetzungen des Rekursrechtes (Parteifähigkeit), ist somit
hinsichtlich sämtlicher Rekurrenten, d. h. der Gemeinde Biel sowohl als
der einzelnen rekurrierenden Einwohner dieser Gemeinde, den Anforderungen
des Art. 178 Ziff. 2 des Org.-Ges. Genüge geleistet.
b. Anders verhält es sich dagegen mit der weitern Frage, ob die
Rekurrenten durch das angefochtene Urteil der bernischen Polizeikammer
eine Rechtsverletzung" im Sinne der genannten Vorschrift erlitten haben.
Das ist vorerst ohne weiteres insofern zu verneinen, als die Rekurrenten
geltend machen, die Polizeikammer habe mit ihrem Entscheide die vom
Regierungsrate genehmigte Verordnung für nus! und nichtig erklärt,
dadurch in die Kompetenzsphäre der Regierungsgewalt übergrifsen und so
den Grundsatz der Gewaltentrennung verletzt. Durch eine solche angebliche
Missachtung der Bestimmungen über die beidseitigen Kompetenzen staatlicher
Organe, des Regierungsrates als exekutiver Und der Polizeikammer als
gerichtlicher Behörde, sind offenbar die Rechte der rekurrierenden
Gemeinde beziehungsweise der als Angehörige derselben rekurrierenden
Privaten nicht verletzt. Die Rekurrenten sind deshalb auch nicht
legitimiert, sich diesbezüglich zu beschweren, sondern es kann allein
Sache des Regierung-states selbstI. Kampetenzüberschreimngen kantonaler
Behörden. N° 42. 205
sein, von sich aus in der ihm gutscheinendeu Weise seine Kompetenzen
zu wahren.
Aber auch im übrigen enthält das angesochtene Urteil den Rekurrenten
gegenüber keine zur Beschwerdesührung berechtigende Rechtsverletzung
Im Strafprozesse, in welchem es erlassen wurde, war keiner von ihnen,
speziell auch nicht die Einwohnergemeinde Viel, Partei, sondern waren
als Parteien beteiligt einerseits die Staatsanwaltschast, anderseits
die verschiedenen Angeklagten. Von diesen Prozessparteien beschwert
sich niemand, insbesondere auch nicht die mit ihren Anträgen auf
Bestrafung unterlegene Staatsanwaltschast, gegen das Urteil, welches
von kompetenter Amtsstelle erlassen worden ist und für die Beteiligten,
speziell die freigesprochenen Angeklagten Recht geschaffen hat, während
es umgekehrt die Rechtsstellung der der Parteirechte entbehrenden,
dem Prozess fern gebliebenen Rekurrenten weder betreffen konnte noch
wollte. Von einer Aufhebung des gültig ergangenen Richterspruches kann
unter diesen Umständen nicht die Rede sein.
Die Möglichkeit einer Verletzung verfassungs-mässiger Rechte der
Rekurrenten fällt mit diesen Ausführungen ausser Betracht. Wenn ferner
ein Teil der rekurrierenden Privaten neben ihrer Berufung auf ihre
Eigenschaft als Gemeindemitglieder und dadurch bedingte verfassungsmässige
Rechte noch darauf abstellen will, dass das Urteil für sie auch eine
Schädigung materieller und ethischer Interessen zur Folge haben werde,
so kommt diesem Momente für die Frage der Befugnis zur Beschwerdeführung
noch weniger Bedeutung zu. Denn wegen Verletzung blosser faktischer
Interessen, die nicht als Rechte anerkannt und geschützt sind, ist der
staatsrechtliche Rekurs überhaupt unzulässig; -
erkannt: Auf den Rekurs wird nicht eingetreten.