12 Civilrechtspflege.

II. Haftpflicht der Eisenbahnen u. s. w. bei Tötungen und
Verletzungen. Responsabilité des entreprises de chemins de fer, etc. '
en cas d'accident entrainant mort d'homme

ou lésions corporelles.

3. girini vom 16. Januar 1902 in Sachen gain gi, KL, u. I. Ber.-Kl., gegen
Zierdeltbahngesellschash bezw. games. Yundesbahuen, Bekl. u. II. Ber.-Kl.

Tod des Versorgers (Ehemannesss). Behauptetes Selbstverschuldem Art. 2
E.-H.-G. Mass der Entschädigung, Art. 5 Abs. 1 u... 2 and.

A. Durch Urteil vom 27. September 1901 hat das Obergericht des Kantons
Aargau erkannt:

Die Beklagte ist schuldig, der Klägerin eine Aversalentschädigung von
5000 Fr. und die Kosten der Beerdigung mit 96 Fr. 80 Cis. samt Zins à
59/0 von beiden Beträgen seit 15. März 1900 zu bezahlen.

B. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien rechtzeitig und in richtiger
Form die Berufung ans Bundesgericht ergriffen. Die Klägerin stellt das
Begehren, es sei ihr der Klagschluss im vollen Umfang zuzusprechen,
eventuell, es sei die vom Obergericht auf Fr. 5000 festgesetzte
Entschädigung unter Verneinung jeglichen Verschuldens des verunglückten
Ehemanns Bürgi angemessen zu erhöhen. Die Beklagte beantragt, es sei
in Aufhebung des obergerichtlichen Urteils die Klage in vollem Umfange
abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der im Jahre 18 16 geborene August Bürgi von aarg. Erlinsbach stand
seit 1872 im Dienste der Beklagten, zuletzt als Weichenund Barrierenwärter
mit einem Jahresgehalt von 1770 Fr. Er hatte zusammen mit K. Wernli
die Bedienung des Bahnüberganges beim Schulhaus Aarau zu besorgen und
Ver-II. Haftpflicht der Eisenbahnen bei Tötungen und Verletzungen. N°
3. 13

unglückte dort am 2. September 1899 auf folgende Weise: Bei einbrechender
Dunkelheit, gegen 61/2 Uhr abends, setzte Bürgi vermittelst einer Stange
die zwischen Gekeife I und II befindliche elektrische Übergangslampe
in Funktion. Als er die Stange wieder an ihren Ausbewahrungsort nach
dem nahen Wärterhäuschen zurücktragen wollte und gegen dasselbe zu die
Schienen Überschritt, wurde er von einer auf Geleise II vorfahrenden
Rangiermaschine erfasst und bis zur nächsten Weichenzunge geschleift.
Dort schlug er so heftig mit dem Kopfe auf, dass nach wenigen Minuten
der Tod eintrat. Der Verunglückte hinterlässt die zur Zeit des Unfalles
54 Jahre alte, also vor ihm geborene Witwe, Maria geb. Bircher. Diese
fordert gestützt auf Art. 2 und 5 des EisenbahmHastpslichtgesetzes von
der Beklagten eine Aversalentschädigung von 10,765 Fr., dazu Ersatz der
Beerdigungskosten mit 96 Fr. 80 (SAS., beides verzinslich à 50/0 seit
dem Vermittlungsversuch vor Friedens-richten Die Beklagte bestreitet
grundsätzlich ihre Haftpflicht, da Bürgi infolge Selbstverschuldens
im Sinne von Art. 2 ibid. den Tod gefunden habe; jedenfalls könne
Art. 7 leg. cit. nicht in Betracht fallen; eventuell wird die
Schadenersatzsorderung als Übertrieben bezeichnet.

2. (Art. 7 E.-H.-G. von der Klägerin fallen gelassen.)

3. Was zunächst die Einrede des Selbstverschuldens betrifft-, so ist zu
untersuchen, ob die Beklagte den ihr obliegenden Beweis hiefür erbracht
habe. Dabei fällt als thatsächlich festgestellt in Betracht: Während
Bürgi sich anschickte, die Stange zurückzuHagen, fuhr auf Geleise I
der um einige Minuten verspätete Oltener Zug heran. Bürgi wendete das
Gesicht gegen jenen, schaute also nicht auf Geleise II, dem er sich
gleichzeitig näherte. So geriet er vor die Maschine des in seinem Rücken
manöverierenden Rangierzuges Die Beklagte sieht nun das Verschulden
darin, dass sich der Verunglückte, bevor er dem zu überschreitenden
Geleise auf gefährliche Distanz nahe kam, nicht vergewisserte, ob

es passierbar fei. Sie betont speziell, Bürgi hätte sich in der

Richtung gegen den Bahnhof Aarau umsehen follett, übrigens hätte ihn
auch das Geräusch des Rangierzuges bei genügender

Aufmerksamkeit warnen müssen.

Unzweifelhaft ist, dass Bürgi den verhängnisvollen Zug weder

14 ciejikechtspuege

sah, noch hörte resp. nach dem Geräusch als in verderblicher
Nähe befindlich erkannte. Dieser Umstand kann ihm jedoch nicht zur
Schuld angerechnet werden, denn die Bengenanssagen, dass der Lärm des
einfahrenden Oltener Zuges jenes schwächere Geräusch momentan übertönte
und für ihn unwirksam macchie, sind durchaus glaubwürdig. Näher
zu prüfen ist somit nur der Vorwurf ungeniigender Vethätigung des
Gesichtssinnes. Beide Vorinftanzen haben ihn als begründet erachtet und
daraus ein Verschulden abgeleitet. Das Obergericht hebt hex-vor, dass
Bürgi zu grösserer Aufmerksamkeit verpflichtet gewesen wäre, besonders
da er jenes täglich ausgeführte Rangiermanöver kannte und wahrscheinlich
damals auch den ersten Teil desselben beobachtet hatte Immerhin misst
es übereinstimmend mit der ersten Instanz diesem Verschulden keine
ausschliessliche Bedeutung bei, da ein äusserer ungewöhnlicher Umstand,
die verspätete Einfahrt des Oltener Zuges, im fatalen Augenblick die
Aufmerksamkeit des Verungliickten abgelenkt und daher wesentlich zur
Herbeiführung des Unfalles beigetragen habe. Das falle um so schwerer ins
Gewicht, als nach Aussage des kompetentesten Zeugen ein einziger Moment
der Unachtsamkeit genügte, um Bürgi seinem Schicksal zu überliefern.
Danach bewertet das Obergericht den Anteil des Selbstverschuldens am
Unglück auf 40 0/0.

Dieser Auffassung kann nicht beigetreten werden. Wenn ein
Eisenbahnangestellter bei vorschriftsgemässer Erfüllung seiner
dienstlichen Obliegenheiten einen Unfall erleidet, weil ein aussergewöhw
liches Ereignis seine Aufmerksamkeit von den Gefahren seines Berufes
momentan abgelenkt hat, so kann in seinem Verhalten wohl ein Versehen,
nicht aber ein rechtlich relevantes Verschulden gefunden werden. Im
vorliegenden Falle ist zu berücksichtigen, dass der Verunglückte,
welcher schon lange Jahre einen verantwortungsvollen Dienst versehen
hat, und dem von seinem Vorgesetzten das Zeugnis eines zuverlässigen,
pflichtgetreuen Arbeiters ausgestellt wird, offenbar gewohnt war, das
Rangiermanöver nicht ausschliesslich mit dem Auge, sondern auch an dem
Geräusch wahrzunehmen, dass also gewöhnlich die beiden Sinne zusammen
wirkten. Wenn nun an dem verhängnisvollen Abend das Gehör wegen des
ungewöhnlichen Lärms versagte, das Auge aber, eben-Il. Haftpflicht der
Eisenbahnen bei Tötungen und Verletzungen. N° 3. 15

falls infolge eines zufälligen äussern Umstandes, für einen Augenblick
abgelenkt wurde und dieser Augenblick genügte, um das Unglück
herbeizuführen, so kann die hierin liegende Unterlassung des durch
die Situation gebotenen nicht als schuldhaft gelten. Die gegenteilige
Ansicht würde an die menschliche Natur zu hohe Anforderungen stellen,
denn es trifft hier in erhöhtem Masse zu, was das Bundesgericht im Falle
Leu gegen Centralbahn (Umts. Samml., Bd. XVIII, S. 247) ausgesprochen
hat: Es ist Eisenbahnbediensteten nicht zuzumuten, dass sie bei ihrer
Diensterfüllung auf den Schienengeleisen stetsfort mit gespannter
Aufmerk- famkeit auf ihre Sicherung gegen Betriebsgefahren bedacht seien.
Die menschliche Natur lässt, nach psychologischen Gesetzen, eine solche
fortgesetzte Anspannung der Aufmerksamkeit bei täglichem Umgange mit
der Gefahr nicht zu. Wenn daher ein Eisenbahnbediensteter während der
Erfüllung dienstlicher Verrichtungen auf dem Schieneugeleise eine ihm
drohende Gefahr übersieht, welche er bei Aufwendung ängstlicher Vorsicht
entdecken konnte, so kann darin nicht ohne weiteres ein Verschulden
gefunden werden. Zu dergleichen ferner auch Band XXII, S. 771

Es kann nach dieser Entscheidung der Verschuldensfrage hier unerortert
bleiben, ob sich die Auffassung der Vorinstanz, welche den Unfall
einem Zusammenwirken von Zufall und Selbstverschulden zuschreibt und
daraus eine prozentuale Herabsetzung der grundsätzlich berechtigten
Entschädigungsforderung folgert, überhaupt aus den zutreffenden
Gesetzesbestimmungen interpretieren lasse.

4. Fällt somit die Einrede des Selbstverschuldeus als unbegründet
dahin, so folgt daraus die prinzipielle Haftpflicht der beklagten
Gesellschaft, und zwar hat die Klägerin unbestrittenermassen nach Art. 5,
2 E.-H.-G. Anspruch auf Ersatz des ihr durch den Tod des Ehemannes
entzogenen Unterhaltes, so weit er zu einem solchen verpflichtet
war. Sie selbst taxiert diesen Schaden im Klagebegehren auf 10,765
Fr wobei die Hälfte des Jahreseinkommens des Mannes von 885 Fr. als
Grundlage der Berechnung dient. Dem gegenüber wendet die Beklagte ein,
dass der Ehemann unzweifelhaft mehr als die Hälfte seines Gehaltes
für sich selbst gebraucht habe, besonders da durch die Entfernung des
Dienstortes von der Wohnung sein Lebensunterhalt verteuert

16 Civilrechtspflege.

worden sei, dass Übrigens die Frau, selbst bei gleichen Bedùrsnissen,
nicht auf die Hälfte Anspruch hätte, indem sie einen Teil ihres Unterhalts
aus Garten und Land bestreite, dass daher in Berücksichtigung der
konkreten Verhältnisse ein jährlicher Zuschuss seitens des Mannes von
600-700 Fr. hoch genug eingeschätzt fei. Das kantonale Obergericht nimmt
an, dass der Ehemann seiner Frau jährlich 700 Fr. zugewendet habe und
gelangt danach beim Alter der Klägerin auf eine Absindungssumme von 9232
Fr. 80 (Stà, von welcher jedoch einerseits wegen der Entschädigung in
Kapitalform 10 0/0, anderseits wegen des statuierten Selbstverschuldens
40% in Abzug gebracht werden, so dass sich die zugesprochene
Entschädigungssumme ans 5000 Fr. belaust.

Gegenüber dieser Argumentation ist zu bemerken: Massgebend für die
Ausmittlung des Schadens im Sinne des Gesetzes ist nach konstanter
bundesgerichtiicher Praxis nicht, wie die Vorinstanz anzunehmen scheint,
die Summe, welche der Mann seiner Frau thatsächlich zugewendet hat,
sondern vielmehr derjenige Betrag, zu dessen Leistung er rechtlich
verpflichtet war. Es entscheidet also das Mass der Bedürftigkeit; denn
eine Unterhaltungspflicht basiert lediglich auf dem Bedürfnis-. Allerdings
sind beider Feststellung dieses Bedürfnisses die ökonomischen und sozialen
Verhältnisse zur Zeit des Unfalls zu berücksichtigen, d. h. man kann nicht
verlangen, dass die Witwe ihre bisherige Lebensführung in erheblicher
Weise andere, und das Mass der Entschädigung nach diesem veränderten
Zustand ermitteln

Nun ist zunächst der Beklagten beizustimmen, wenn sie ausführt, dass
in der Bevölkerungsklasse, die hier in Frage kommt, bei welcher die
Bedürfnisse der Familie sich fast ausschliesslich nach dem Erwerb des
Mannes richten, dieser regelmässig nicht die Hälfte, sondern nur etwa
zwei Fünftel desselben der Frau wird zuwenden können, da er selbst
mehr braucht als fie. Das gilt insbesondere für den vorliegenden Fall,
wo der Mann entfernt von seiner Arbeits-stelle wohnte und nicht alle
Mahlzeiten zu Hause einnehmen konnte. Wenn ihm auch die Frau das Essen
zutrug so bedeutet immerhin die hiesür erforderliche Zeit eine Verteuerung
des Haushaltes Ferner ist im Sinne obiger Erwägung daraus Rücksicht zu
nehmen, dass die Frau noch in arbeits-Il. Haftpflicht der Eisenbahnen
bei Tötungen und Verletzungen. N° 3. 17

fähigem Alter steht, dass sie unbestrittenerinassen Wohnung, Garten und
Land besitzt, aus dein sie ihren Unterhalt zum Teil selbst bestritt und
auch in Zukunft bestreiten kann

Zieht man alle diese Umstande' m Betracht, so erscheinen 600 {gr qm Jahr
als genügendes Äquivalent für den Ausfall der pflichtgemässen Leistung
des Marines. Fur eine Jahresrente in diesem Betrage ist beim Alter der
Klägerin, das hier zu berücksichtigen ist, weil die Frau älter war als
ihr Mann, nach Soldans TaTbelle III ein Kapital von 7100 Fr. erforderlich
Dieser Betrag erscheint jedoch für die Form der Averfalentschädigung
zu hoch, weil berechnet unter der für die Klägerin zu vorteilhaften
Voraussetzung steter Gesundheit und bisheriger Arbeitsfähigkeit des
Mannes während ihrer wahrscheinlichen Lebensdauer. Daher erscheint
ein Abzug von 15 % gerechtfertigt und es verbleiben somit 6000 Fr. als
angemessene Entschädigung

5 Die Kosten der Beerdigung sowie die Zinsforderung sind für den
Fall bestehender Haftpflicht nicht bestritten und daher der Klägerin
zuzusprechen

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

1. Die Berufung der Klägerin wird in dem Sinne gutgeheissen, dass in
teilweiser Abänderung des angesochtenen Urteils die Beklagte der Klägerin
eine Aversalsumnie von 6000 Fr., ferner die Kosten der Beerdigung mit 96
Fr. 80 Età, beides verzinslich zu 59/0 seit 15. März 1900 zu bezahlen hat.

2. Die Berufung der Beklagten wird abgewiesen

xxvm, 2. 1902 2
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 28 II 12
Datum : 16. Januar 1902
Publiziert : 31. Dezember 1903
Quelle : Bundesgericht
Status : 28 II 12
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 12 Civilrechtspflege. II. Haftpflicht der Eisenbahnen u. s. w. bei Tötungen und


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beklagter • mann • selbstverschulden • tod • mass • olten • weiler • bundesgericht • distanz • stelle • witwe • garten • aarau • obliegenheit • vorinstanz • schaden • zins • sorgfalt • entscheid • berufung ans bundesgericht
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