A. STAATSREGHTLIGHE ENTSGHEIDUNGEN ABBE-es DE DROIT PUBLIC

Erster Abschnitt. Première section.

Bundesverfassung. Constitution sédérale.I. Reehtsverweigerung und
Gleichheit vor dem Gesetze.

Déni de just-ice et (egalité devant la loi.

75. Urteil vom 15. Oktober 1902 in Sachen Gemeinderat Rapperswyl und
Genossen gegen Regierungsrat Thurgau.

Thum. Gesetz betrefi'end Handd'nderungsund Stempelgebüären. Befreiung von
der Handänderungsgebühr bei Vermdciiénissen zu mildtàîSi-gen Zwecken amd
an gemeinnützige Anstalten. Die Anwendung dieser Bestimmung nur auf im
Kanton Thurgau gelegene, nicht auf ausserhalb geéegene Anséalten schliesse
keine ueizultissige ungieiche Behex-ndhmg in sick. Art. 4 ea. 60 B.-V.

A. Am 16. Mai 1901 starb auf Schloss Castell in Tages-weisen, Kamm
Thurgau, Baron Maximikian von Scherrer. In seinem Testamente vom
28. Februar 1898 hatte er unter andern folgende Legate ausgesetzt:

xxvt:1, l. 4902 22

314 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

dem Gemeinderat von Rapperswyl zur Verteilung unter die verschiedenen
gemeinnützigen Fonds der

Gemeinde nach seinem Gutdünken . . . . . Fr. 20,000 den Rettungsanstalten
für verwahrloste Kinder

von St. Gallen, Balgach und Grabs je.. . . . 5,000 der Hülfsgesellschaft
St. Gallen nach freier Ver-

fügung . . . . 20, 000-

Von diesen Vermächtnissen berechnete die mit der Erbteilung betrante
Notariatskanzlei Gottlieben in Tagerweilen die Erbschastssteuer nach
den §§ 3 und 4 des Gesetzes Über die Handänderungsund Stempelgebühren,
vom 23. Mai 1850, währendähnliche Legate für thurgauische Institute
steuerfrei belassen wurden. Mit Entscheid vom 9. Mai 1902 wies der
Regierungsrat des Kantons Thurgau eine von den Vermächtnisnehmern gegen
dieAuferlegung der Steuer gerichtete Beschwerde ab.

B. Namens der genannten Legatare hat gegen diesen Entscheid Advokat Lutz
rechtzeitig einen staatsrechtlichen Rekurs beim Bundesgerichie eingereicht
wegen Verletzung des Art. 4, event. auch 60der Bundesverfassung. Die
Rekurrenten stützen sich auf § 5 litt. g des thurgauischen Gesetzes über
die Handänderungsund Sternpelgebühren, wo bestimmt ist: Die gänzliche
Befreiung von der Handänderungsgebühr findet statt: g) bei Vermächtnissen
und Schenkungen zu mildtätigen Zwecken und an gemeinnützige öffentliche
Anstalten. Hier, wird im Rekurs im wesentlichen geltend gemacht, sei
die Steuerfreiheit allgemein zugesichert, ohne Unterschied zwischen
thurgauischen und ausserkantonalen Anstalten. Die thurganischen
Behörden dürften deshalb einen solchen Unterschied nicht in das Gesetz
hineininterpretieren, zumal da der Regierungsrat denselben in seiner
frühem Praxis nicht gemacht habeund nur zum Zwecke der Retorsion gegenüber
den Kantonen, die einen abweichenden Standpunkt einnahtnen, von dieser
Praxis ab:gegangen sei, was aber nicht angehe. Die unterschiedliche
Behandlung von kantonalen und ansserkantonalen gemeinnützigen Legaten
erscheine daher als eine willkürliche; ungleiche und verfassungswidrige
Gesetzesanwendung

C. Der Regierungsrat des Kantons Thurgau bemerkt in der Vernehmlassung:
Es sei klar, dass die von den Rekurrenten an-I. Rechtsverweigerung und
Gleichheit vor dem Gesetze. N° ?5. 315

gerufene Bestimmung des thurgauischen Gesetzes betreffend die
Handänderungsund Stempelgebühren nur für das Gebiet des Kantons Thurgau
Geltung habe. Es stehe den Kantonen zu, zu bestimmen, in welchen
Fällen Steuerbefreiung eintreten solle, und ausserhalb des Kantons habe
niemand das Recht, eine solche Steuerbefreiung zu beanspruchen Es wird
dann auf den Entscheid des Bundesgerichts in Sachen des Polnischen
Nationaltnuseums gegen den Kanton Waadt (Amu. Samml., Bd. XII, S. 34
ff.) verwiesen, wogegen die Rekurrenten schon im Rekurse eingewendet
hatten, dass der Fall deshalb nicht gleichliege, weil im Kanton Waadt,
im Gegensatz zum Kanton Thurgau, der Unterschied zwischen kantonalen und
ausserkantonalen Anstalten im Gesetze gemacht sei. Es sei unrichtig, wird
in der Vernehmlassung weiter gesagt, dass die thnrganische Praxis eine
solche Steuerbefreiung ohne Unterschied allen ausserkantonalen Anstalten
und Stiftungen gegenüber geübt habe. Dass mehrere oder einzelne Kantone
sich gegenseitig diese Befreiung zugestehen können, sei selbstverständlich
Die Verweigerung einem Kanton gegenüber, der dieses Zugeständnis ablehne,
wie z. B. gegenüber St. Gallen, das im Gesetze den Unterschied mache,
sei keine Retorsion, weil kein ausser dem Kanten Bedachter ein Recht auf
die Wohltat des Steuernachlasses habe. Übrigens könne von einer Praxis
nicht gesprochen werden, indem seit 20-25 Jahren ein solcher Fall im
Thurgan nicht vorgekommen sei, auch wäre der Regierungsrat berechtigt,
eine neue Praxis einzuführen

Das Bundesgericht zieht in Erwagung:

1. Der Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, Art. 4 der
Bundesverfassung, fordert nicht und kann nicht fordern, dass alle Personen
ohne Unterschied in der Gesetzgebung und Rechtssprechung absolut gleich
gestellt und gleich behandelt werden, sondern lasst es wohl zu dass nach
natürlichen oder durch Sitte und Gebrauch geschaffenen Verschiedenheiten
auch eine verschiedene rechtliche Behandlung eintritt Nur muss das
Unterscheidungsmerkmal, an das die ungleiche rechtliche Behandlung sich
anknüpr ein solches sein, das sich auf dem betreffenden Gebiete nach
allgemeiner Auffassung als ein wesentliche-s dars,tellt und darf nicht
auf solche Verschiedenheiten abgestellt werden, die nach anerkannten

316 A. staatsrechtlicheEntscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

Grundsätzen der Rechtsund Staatsordnung für das in Frage stehende
Rechtsverhältnis als unerheblich bezeichnet werden müssen {dergL
Amtl. Samml. der bundesgerichtl. Entscheid., Bd. XXVII i. Teil, S. 497
und dortige Citate). Im vorliegenden Falle nun hat der Regierungsrat
des Kantons Thurgau den Rekurrenten deshalb die von ihnen postulierte
Befreiung von der Erbschaftssteuer nicht gewährt, weil die Anstalten und
Einrichtungen, denen die Legate zu gute kommen, ausserhalb des Kantons
sieh befinden. An sich ist dies ein Kriterium, das eine verschiedene
rechtliche Behandlung hinsichtlich oer Erbschaftssteuer wohl zu
rechtfertigen vermag. Die Auffassung ist durchaus begründet, dasz ein
Kanton, wenn er Legate zu gemeinnützigen und wohltätigen Zwecken von der
Erbschaftssteuer befreit, damit indirekt die Erfüllung von Aufgaben durch
Dritte erleichtern wolle, die sonst ihm obliegen würden, dass also der
Zweck der Steuerbefreiung nicht die Förderung der Gemeinnützigkeit und
Wohltätigkeit im allgemeinen, sondern nur die Begünstigung derartiger
Bestrebungen innerhalb des Kantonsgebietes sei, zu Gunsten von Anstalten
und Einrichtungen, die in erster Linie den Kantonsangehörigen zu gute
kommen und welche anderseits auch unter der Gesetzgebung und Kontrolle
des betreffenden Kantons stehen (vergl. hierzu den vom Regierungsrat
des Kantons Thurgau eitierten Entscheid des Bundesgerichts in Sachen des
Polnischen Nationalmuseums gegen Waadt). Allerdings macht das thurgauische
Gesetz über die Handänderungsund Stempelgebühren diesen Unterschied
nicht. Allein, wenn der thurgauische Regierungsrat denselben bei der
Anwendung des Gesetzes in dieses hineinlegte, so ist er damit über
die Grenze seiner Befugnisse in keiner Weise hinausgegangen, da eine
einschränkende Interpretation wohl möglich und bundesrechtlich nicht
zu beanstanden ist. Eine ungleiche Behandlung liegt aber ebensowenig
darin, dass einzelnen Kantonen gegenüber, die die Steuerbesreiung
allgemein gewähren, der Kanton Thurgau ebenfalls von der Erhebung einer
Erbschaftssteuer absieht. Es ist dies eine Vergünstigung, eine zulässige
Abweichung von der Regel, welche diese letztere selbst keineswegs zu
einer unzulässigen Retorsion macht. Wenn früher das Gesetz in einem
weitern Sinne ausgelegt worden sein sollte, so hindert dies eine Änderung
der Praxis nicht, sobald[. Rechtsverweigerung und Gleichheit vor dem
Gesetze. N° ?6. 317

diese nur auf einer sachlichen Begründung beruht, was hier zutrifft.
Übrigens ist nicht dargetan, dass eine feste Praxis in ent- gegengesetztem
Sinne je bestanden habe. Der Rekurs ist demnach, soweit er sich auf
am. 4 der Bundesverfassung stützt, abzuweisen. Aus den gleichen Gründen
erscheint aber auch die eventuelle Berufung auf am. 60 der B.-V. als
unstichhaltig.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Der Rekurs wird abgewiesen.

76. Urteil vom 23. thober 1902 in Sachen Willy gegen Stienen.

Bewilligung eines nachträglichen Rechtsvorscmages. Voraussetzungen
hiefüe". Art. 7 7 Abs. 1 SeltK . -G. Bessersteilung eines Auslänzie-rs.
Art. 4 B.-V.

A. Hugo Willy in Orlikon liess den J. G. Stienen in Säckingen, nachdem
er gegen ihn einen Arrest aus-gewirkt hatte, bezüglich dessen zwar der
Arrestgrund vom Schuldner bestritten wurde, durch das Vetreibungsamt
Stein für eine Forderung von 7612 Fr. 50 Cis. nebst Kosten betreiben. Der
Zahlungsbefehl ist dem J. G. Stienen am 21. August 1902 zugestellt
worden; das Betreibungsamt bediente sich dazu des üblichen Formnlars,
dem die einschlägigen Gesetzesvorschriften über den Rechtsvorschlag,
speziell Art. 74 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung Und Konkurs,
aufgedruckt find. Die Rechtsvorschlagfrist blieb unbenützt. Dagegen
reichte der Schuldner am 8._ September 1902 beim Gerichtspräsidenten von
Rheinfelden ein Gesuch um Bewilligung des nachträglichen Rechtsvorschlages
im Sinne von Art. 77 B.-G. ein. Mit Entscheid vom 13. September 1902
bewilligte der Gerichtspräsident von Rheinfelden, der nach kantonalem
Recht über das Gesuch als einzige Instanz zu entscheiden hatte, den
nachträglichen Rechtsvorschlag, im wesentlichen mit folgender Begründung:
Der Betriebene habe ohne Schuld den Rechts-sor-
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 28 I 313
Datum : 15. Oktober 1902
Publiziert : 31. Dezember 1903
Quelle : Bundesgericht
Status : 28 I 313
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : A. STAATSREGHTLIGHE ENTSGHEIDUNGEN ABBE-es DE DROIT PUBLIC Erster Abschnitt. Première


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