118 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

Ausübung des Anwaltsberufes frei ist und auch dem Rekurrenten offen
steht. Die Befugnisse, die ihm das bernische Fürsprecherpatent für das
Gebiet der ganzen Eidgenossenschaft verleiht, besitzt er sonach im Ramon
Solothurn schon nach der kantonalen Rechtsordnung. Das Erfordernis
der bürgerlichen Ehrenfähigkeit steht nicht in Frage, und was die
Vorschrift betrifft, dass der Vertreter einer Partei einer Vollmacht
derselben bedürfe, so folgt dieselbeaus der rechtlichen Natur des
Auftragsoerhältnisses im allgemeinen.

3. Weitere Rechte als die, welche ihm nach der solothurnischen
Gesetzgebung an sich schon zustehen und überdies durch ausdrücklichen
Beschluss des Regierungsrates zugesichert find, verleiht dem Rekurrenten
die Bundesverfassung nicht Jus-besondere kann ernicht verlangen, gestützt
auf seinen bernischen Ausweis als solothurnischer Fürsprecher anerkannt
und der besonderen rechtlichen Stellung teilhaftig zu werden, die diesem
nach § 5 der Civil: prozessordnung zukommt. Es steht den Kantonen frei,
trotz der Freigebnng der Advokatur, eine staatliche Prüfung vorzusehen,
eine besondere Klasse von solchen Anwälten zu schaffen, die diese Prüfung
bestehen, und dieselben unter bestimmte öffentlich-rechtliche Normen zu
stellen, durch welche sie zu den Behörden und den Parteien in besondere
Beziehungen der Rechte und Pflichten gesetzt werden. Mit einer solchen
Organisation hat man es bei den solothurnischen Fürsprechern zu tun, die
zu dem kantonalen öffentlichen Rechte in um so nähere Beziehung treten,
als sie nach solothnrnischem Rechte zugleich Notare sind und die Fähigkeit
zu gewissen öffentlichen Ämtern besitzen. Wer dieser Organisation
angehöre, darüber kann das kantonale Recht frei bestimmen, sobald, wie
dies für den Kanton Solothurn zutrifft, der mindesrechtlichen Pflicht,
die sich aus Art. ö der Übergangsbestimmungen für die Kantone ergibt,
schon dadurch Genüge geleistet ist, dass die Ausübung des Anwaltsberufes
jedermann freisteht.

4. Wenn htenach sachlich der Rekurrent nicht auf die Stellung und
die Rechte eines solothurnischen Fürsprechers Anspruch erheben kann,
so steht vom bundesrechtlichen Gesichtspunkt auch dem Vorbehalte des
solothurnischen Regierungs-takes nichts entgegen, dass derselbe im
Kanten Solothurn nicht den Titel Fürsprecher führen dürfe, sofern der
Regierungsrat, was das Bun-III. Doppelbesteuerung. N° 30. 119

desgericht nicht nachzuprüfen hat, ein genügendes staatliches Interesse
hiefür als vorliegend erachtet. Zu seiner beruflichen Qualifikation
stehen dem Rekurrenten noch andere Bezeichnungen zu Gebote, und
selbstverständlich kann es ihm auch nicht verwehrt werden, sich des Titels
bernischer Fürsprecher zu bedienen. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Reknrs wird abgewiesen

III. Doppelbesteuerung-. Double imposition.

30. Urteil vom 30. April 1902 in Sachen Terlinden & (Sie. gegen Bern
und St. Gallen.

Verwirkung des staatsrechtlichen Rekurses wegen Doppelbesteuerung enfolge
freiwilliger Unterwerfee-ng unter die betreiîîznde Steuerhaheitsi

A. Die Firma Terlinden & Cie. betreibt in Küsnacht, Kantons Zurich, eine
Kleiderfärberei und chemische Waschanstalt. Sie hat in verschiedenen
Städten der Schweiz, so in Bern und St. Gallen, Abnahmestellen
errichtet, in der Weise, dass sie einen Laden mietete, in dein eine
von ihr angestellte Person die zum waschen und färben hergebrachten
Kleider und Stoffe entgegennimmt, und, nachdem dieselben nach Küsnacht
gesandt und dort gewaschen und gefärbt worden sind, den Kunden wieder
übergibt,. wogegen sie die Kostenbeträge einkassiert. Zn Bern und
St. Gatten wurde die Firma pro 1901 für das von den betreffenden
Abnahmeftellen erzielte Einkommen besteuert, wie schon früher vonihr
bezw. von ihrem Rechtsvorfahren in den verschiedenen Städten, wo die
Abnahmeftellen bestehen, Einkommensteuer bezogen worden war. Gegen die
Besteuerung pro 1901 beschwerte sich die Firma Terlinden & Cie. mit
Eingabe vom 26. September-fl. Oktober 1901 beim Bundesgericht. Es wird
geltend gemacht, die Heranziehung zur Steuer in Bern und St. Gallen
verstosse gegen das Verbot der Doppelbesteuerung (Art. 46 der B.V.),
und beantragt, es möchten die Einschatzungen der Rekurrentin in den

'120 A. staatsrechtliche Entscheidungen. [. Abschnitt. Bundesverfassung.

beiden Gemeinden für ein Einkommen I. Kiasse pro 1901 aufgehoben und
dieselbe als in diesen Gemeinden nicht steuerpflichtig erklärt werden.

B. Der Regierungsrat des Kantons Bern stellt in seiner Vernehmlassung
zunächst in tatsächlicher Beziehung fest, dass der beschwerdeführenden
Firma zu Anfang des Jahres 1901 das übliche Formular für die
Selbfteinschatzungserklärung Über das steuerpflichtige Einkommen pro 1901
zugestellt und dass dieses am 10. Februar 1901 von der Beschwerdeführerin
ausgefüllt worden ist. Darin hatte sie den Betrag ihres reinen Einkommens
I. Klasse aus 3000 Fr. angegeben, die erweiterte Steuertommission der
Stadt Bern hatte diese Selbstschatzung auf 4500 Fr· erhöht, und eine
hiegegen von der Beschwerdeführerin erhobene Einsprache war von der
Bezirkssteuerkommission abgewiesen worden, wogegen dieselbe an die
Centralsteuerkommission rekurriertez vor Erledigung dieses Rekurses
wurde dann die Beschwerde beim Bundesgericht wegen Doppelbesteuerung
erhoben. Der Regierungsrat des Kantons Bern hält dafür, dass in der
Selbsteinschatzung der Beschwerdeführerin und darin, dass sie die gegen
die Höherschatzung gesetzlich vorgesehenen Rechtsmittel ergriffen hat,
eine Anerkennung der Steuerhoheit des Kantons Bern erblickt werden müsse,
wodurch dieselbe das Recht zur Ergreifung des staatsrechtlichen Rekurses
wegen Doppelbesteuerung verwirkl, bezw. von vornherein daraus verzichtet
habe. Eine nachträgliche prinzipielle Ablehnung der Steuerpflicht pro 1901
könne deshalb Überhaupt nicht mehr gehört werden. Aber auch materieli
könne die Steuerberechtigung des Kantons Bern nicht in Zweifel gezogen
werden, was des nähern begründet wird. Es wird demgemäss aus Abweisung
des Rekurses der Firma Terlinden & (Sie. angetragen.

C. Der Regierungsrat des Kautons St. Gallen teilte mit Schreiben
vom 29. November 1901 mit, dass dortseits auf der Besteuerung der
Beschwerdeführerin für das Steuerjahr 1901 nicht weiter beharrt und
diese daher vorläufig und bis auf weiteres der dortigen Steuerpslicht
enthoben werde.

D. Der Regierungsrat des Kantons Zürich unterstützt seinerseits den Antrag
der Beschwerdesührerin, weil den Als-nahmestellen in Bern und St. Gallen
nicht der Charakter von Zweig-III. Doppelbesteuerung-. N° 30. 121

niederlasfungen zukomme, eine Besteuerung derselben deshalb
bundesrechtlich nicht zulässig sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Praktische Bedeutung hat der Rekurs der Beschwerdeführerin nur
hinsichtlich der Besteuerung für das Jahr 1901. Was die früher-n
Jahre betrifft, so ist die Frage der Steuerberechtigung der Kantone
Bern und St. Gallen nicht mehr zu erörtern, weil die Beschwerdeführerin
bezw. ihr Rechtsvorgänger die ihr auferlegten Steuern erlegt hat. Und für
später erheben zur Zeit weder Bern noch St. Gallen Steueransprüche an
dieselbe. Auf das allgemein gehaltene Begehren der Beschwerdeführerin,
sie sei als in den Gemeinden Bern und St. Gallen nicht steuerpflichtig
zu erflat en, ist daher nicht einzutreten.

2. Auf der Besteuerung pro 1901 in St. Gallen wird laut Erklärung des
dortigen Regierungsrates nicht beharrt. Insoweit ist deshalb der Rekurs
gegenstandslos

3. Was die Besteuerung pro 1901 im Kanton Bern betrifft, so erscheint
das Rekursrecht der Beschwerdeführerin als verwirkt. Sie hat für
dieses Jahr selbst eine Steuereinschatzung vorgenommen, ohne dabei
grundsätzlich ihre Steuerpflicht zu bestreiten oder die Frage auch nur
vorzubehalten. Damit hat sie sich freiwillig der bernischen Steuerhoheit
unterstellt, und sie muss sich die Besteuerung für dieses Jahr gefallen
lassen, selbst wenn dieselbe der Lage der Dinge nach eine unzulässige
Doppelbesteuerung in sich schliessen würde. Der Umstand, dass die
bernischen Tarationsbehörden die Selbsteinschatzung dem Betrage nach
nicht annahmen, sondern erhöhten, bewirkte natürlich nicht, dass das
Recht zur Beschwerde wegen Doppelbesteuerung das durch die vorbehalt-

lose Einreichung der Selbstschatzungserklärung verwirkt war, wieder
-auflebte.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Soweit sich der Rekurs gegen den
Regierungsrat des Kan-

tons St. Gatten richtet, wird derselbe als gegenstandslos abgeschriebem
soweit sich derselbe gegen den Regierungsrat des Kantons

Bern richtet, wird er im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

xxvm, {. 1902 9
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 28 I 119
Datum : 30. April 1902
Publiziert : 31. Dezember 1903
Quelle : Bundesgericht
Status : 28 I 119
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 118 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung. Ausübung


Stichwortregister
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