548 C. Entscheidungen der Schuldbelreibungs-
98. Entscheid vom 11. Oktober 1901 in Sachen Gysi.
Unpfändbare Gegenstände: Ber-ufswerîczeuge eines Zahnarztes. Art.
2 Zssiflsi'. 3 B.-G. Bdchweimng an die kantonale Aufsichtsbehörde zur
Aufnafeme einer Expertise.
I. Die Rekurrentin betrieb den Zahnarzt Vogt in Davos für zwei Forderungen
und liess hiebei am ö. Juni 1901 durch dasBetreibungsamt Davos eine
Pfändung vornehmen. Als Kompetenzftiicke belief; das Amt dein Schuldner
unter anderm die sichvorsindenden Berufswerkzeuge Es berief sich dafür
auf den Umstand, dass man genannte Objekte bereits anlässlich einer
andern Pfändung, die vorher in Aarau gegen Vogt vollzogen worden war,
gestützt auf eine darüber erhobene Expertise dem Schuldner als für seine
Berufsausübung notwendig belassen hatte.
Frau Gysi erhob gegen die Pfändung vom 5. Juni in verschiedenen
Beziehungen Beschwerde Darin brachte sie, die fraglichen Berufswerkzeuge
anlangend, vor: Deren frühere Ausscheidung als Kompetenzstücke
könne für die jetzige Pfänduiig nicht präjudizierend sein. Es werde
bestritten, dass der Schuldner ein Recht habe auf eine so reichhaltige,
über das nötigfte hinausgehende Aussiattung seines Geschäftes, wie die
vorliegende. Übrigens habe ein ausgepfändeter Zahnarzt keinen Anspruch auf
selbständige Bernfsausübung, da er als Afsistenzarzt bei einein Kollegen
in Arbeit gehen könne. Schuldner habe nur für sieh zu sorgen. Seine als
einziges Familienglied bei ihm wohneude Tochter sei volljährig.
Il. Der Kleine Rat des Kantons Grauben ais kantonale Aufsichtsbehörde
wies die Beschwerde im angegebenen Punkte mit folgender Begründung ab:
Dein Zahnarzt Vogt dürfe man das Recht auf selbständigeAusübung seines
Beruer nicht absprechen. Nach der Praxis könne einem Handwerksmeister
nicht zugemutet werden, wieder in das unselbständige Gesellenverhältnis
zurückzntreten, das eine ganz andere Lebensführung bedinge, als der
Betrieb eines eigenen Geschäftes. Dieser Grundsatz müsse aber ebenso
für die Ausübungund Konkurskammer. N° 98. 549
eines höhern und somit auch des zahnärztlichen Berufes gelten. Hievon
ausgehend seien die in Frage stehenden Werkzeuge sämtlich dem Schuldner
zu belassen. Der Besund des Betreibungsamtes Aarau sei freilich für den
gegenwärtigen Fall nicht verbindlich. Allein da er auf dem Gutachten
eines Experten beruhe Und ein Zahnarzt in Davos mindestens so gut mit
Berufswerkzeugen ausgestattet sein müsse, als ein solcher in Aarau, so
liege für die Aufsichtsbehörde auch kein Grund vor, die stattgefundene
Ausscheidung der Berufswerkzeuge zu beanstanden. Es dürfe angenommen
werden, dass eine neue Expertise kein anderes Ergebnis zu Tage fördern
würde. ·
III. Gegen diesen Entscheid ergriff Frau Gysi rechtzeitig die
Weiterziehung an das Buiidesgericht, indem sie unter Festhaltung an
ihren frühem Ausführungen darauf antrug, durch eine fachmännische
Expertise festzustellen, welche Berufswerkzenge dem Betriebenen als
Kompetenzstiicke zu überlassen seien. Die frühere Expertise bestreitet
Rekurrentin als unzuverläfsig, weil von einein Freunde Vogt-s ausgehend,
und gibt zum Beweise ihrer Unrichtigkeit einen Brief des Zahnarztes
Dr. E. Meyer in Bafel,_d. d. 20. Juni 1901 zu den Akten, worin dieser
erklärt, die belassenen Berufswerkzeuge seien auf mindestens 4000 Fr. zu
schätzen und verschiedene derselben nur für modern und reich ausgestattete
Zahnärzte berechnet.
IV. Die kantonale Aufsichtsbehörde beruft sich zur Vernehmlasfung im
wesentlichen auf die Motive ihres Entscheides
Die Schuldbetreibungs und Konkurskammer zieht in Erwägung:
Ein Beruf im Sinne des Art. 92 Ziff. 3 des Betreibuugsgesetzes liegt
nach bisheriger Rechtssprechung dann. vor, wenn die wirtschaftliche
Bethätigung des Schuldners wesentlich in der Ausübung der erlernten
persönlichen Fähigkeiten und der Verwertung seiner durch Studium
angeeigneten Kenntnisse besteht (ng. z. Bf Archiv II, Nr. 101, und III,
Nr. 111). Diese Voraussetzung trifft bei dein vom Rekurrenten ausgeübteii
Berufe ohne Zweifel zu und es müssen somit dje zur Ausübung des letztern
notwendigen Instrumente grundsätzlich als unpfandbar angesehen
werden.
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Bei der Entscheidung darüber, in welchem Umfange diese Unpfändbarkeit
anzuerkennen sei, ist die Vorinstanz von der Annahme ausgegangen,
der Rekurrent habe einen gesetzlichen Anspruch, seinen Beruf auch
künftighin als selbständig etablierter Zahnarzt auszuüben Und es könne
ihm nicht zugemutet werden, als Assistenzarzt bei einem Kollegen in
Stellung zu treten. Diese Auffassung erscheint indessen in ihrer
Allgemeinheit nicht als zutreffend Vielmehr ist dem Schuldner nur
insoweit die Möglichkeit weiterer selbständiger Berufsausübung zu
wahren, als er durch den Entng derselben, durch den Zwang, künstighin
in abhängiger Stellung als Angestellter, Arbeiter, ze. thätig zu sein,
nach den allgemeinen Bedingungen der betreffenden Berufsbranche und den
besondern Verhältnissen des konkreten Falles sich ausser Stand sehen
würde, den für ihn resp. seine Familie erforderlichen Lebensunterhalt
zu verdienen. Nur unter dieser besondern Voraussetzung hat auch die
bisherige Praxis ein Anrecht des Schuldner-s auf Fortsetzung seiner
selbständigen Berufsthätigkeit anerkannt (vgl. Archiv I, Nr. 24, und Il,
Nr. 19). Nur mit einer solchen Einschränkung lässt sich der fragliche
Grundsatz mit dem Sinne und Zwecke des Gesetzes vereinbaren, wonach
offenbar die selbständige Berufsansübung nur als Mittel für Gewinnung
des notwendigen Unterhalies aufrecht zu erhalten ist.
Vorliegenden Falles muss es sich also vorerst fragen, ob es dem
Rekursopponenten möglich sei, eine Anstellung bei einem andern
Zahnarzte zu finden, welche ihm das nach den gegebenen Verhältnissen
notwendige Einkommen bieten würde. Dabei fällt in Betracht, dass Vogt,
wie es scheint, nur für sich selbst zu sorgen hat, da seine Tochter,
die freilich in gemeinsamer Haushaltung mit ihm lebt, volljährig und
also wohl selbst erwerbsfähig ist. Ob nun der Schuldner nach den in
der Zahnarztueibranche bestehenden Verhältnissen im allgemeinen und
nach den besondern Bedingungen seiner Berufsausübung selbst (Alter
ze.) als blosser Angestellter auf ein Auskommen in genanntem Umsange
zählen könnte, ist eine Frage, die mit hinreichender Bestimmtheit nur
von einem Fachkundigen sich beurteilen lässt, und es ist deshalb die
Ansicht eines solchen hierüber einzuholen. Bejaht derselbe diese Frage,
so wird er sich im weitern darüber auszusprechen haben,-..(-... . . si _
und Konkurskammer. N° 98. 5-51
welche der vorhandenen Werkzeuge für Vogt noch notwendig sind, um
seine Berufsthätigkeit in der neuen Stellung eines Assistenten rnit
Erfolg dauernd ausüben zu können. Kommt der Experie umgefebrt zu einer
verneinenden Antwort, so scheint es angezeigt, durch ihn gleichzeitig
feststellen zu lassen, in welchem Umfange die streitigen Instrumente
für eine weitere selbständige Berufsbethätigung Vogts unentbehrlich
sind. Allerdings war dieser Punkt bereits Gegenstand der in Aarau
vorgenommenen Expertise. Allein abgesehen davon, dass dieselbe eine
andere Betreibung betrifft und dass sich die Verhältnisse seither
verändert haben können, lässt sich ans den Akten nicht ersehen, ob sie
wirklich auf einer richtigen Grundlage ruht und nur die dem Schuldner
thatsächlich unentbehrlichen Instrumente ihm belassen will. Es ist
nämlich davon auszugehen, dass der Schuldner keineswegs einen Anspruch
aus Belassung von Werkzeugen, wie sie nur in einem besser ausgestatteten
Atelier sich finden, hat, sondern dass sich die Kompetenzqualität auf
diejenigen beschränkt, ohne welche überhaupt eine konkurrenzfähige
Berufsausiibung unter einfachen Verhältniser nicht mehr möglich wäre.
Das Begehren der Rekurrentin um Aufnahme einer neuen Expertise erscheint
also nach den gemachten Ausführungen und im Sinne derselben als begründet.
Demnach hat die Schuldbetreibungs und Konkurskammer
erkannt:
Der Rekurs wird gutgeheissen und damit die Sache zu weiterer Behandlung
im Sinne der Motive an die kantonale Aufsichtsbehörde zurückgewiesen.
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