474 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. lI. Abschnitt. Bundesgesetze.

weisen versucht, dass ein rechtlicher Unterschied zwischen der Abtretung
unkultivierten Landes, Wald inbegrifsen, Und der Abtretung kultivierten
Landes sei, und da die durch dieses Gesetz den Gemeinden auferlegten
Leistungen offenbar Subventionen sind, die den Gemeinden wegen der
Vorteile auferlegt werden, die ihre Verkehrsverhältnisse durch den Betrieb
der Bahn erfahren, also Snbventionen aus Gemeindegut als Ausgleich von
der Gesamtheit der Gemeindeeinwohner zukommenden Vorteilen, so liegt in
der That eine Leistung öffentlich-rechtlicher Natur vor, eine Leistung
im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt der Gemeinde ans dem für diese
Wohlfahrt bestimmten Vermögen der Gemeinde.

é. Trotz einiger Ähnlichkeit des vorliegenden Falles mit dem vom
Bundesgericht am 21. November 1895 beurteilten Falle der Gemeinden
Hottwil, Stein, Gansingen n. s. w. liegt doch ein wesentlicher Unterschied
vor. Damals handelte es sich Um die Frage, ob durch Dekret des Grossen
Rates die Gemeinden zu unentgeltlicher Abtretung des zum Eisenbahnban
benötigten Gemeindelandes verpflichtet werden können. Diese Frage wurde
vom Bundesgericht verneint, einmal, weil dem Grossen Rat, der nicht
Gesetzgeber sei, die zum Erlass des Dekretes erforderliche Kompetenz nicht
zustehe, und dann aber auch mit Rücksicht aus die in der Verfassung des
Kantons Aargau anders als in Graubünden geordnete Gemeindeautonomie. Die
Reknrrentin kann sich also nicht auf den citierten Entscheid berufen,
sondern der Rekurs muss auf Grund der vorstehenden Erwägungen als
nnbegründet bezeichnet werden.

5, Unter diesen Umständen braucht auf die durch die Rechtsschriften
der Parteien noch keineswegs abgeklärte Frage der Legitimation der
Bürgergemeinde zum Reknrs nicht eingetreten zu werden. Denn der Rekurs
müsste auch dann abgewiesen werden, wenn die Legitimationsfrage im Sinne
der Reknrrentin zu entscheiden wäre.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird abgewiesenH. Auslieferung von Verbrechern und
Angeschuîdigten. N° 81. 475

II. Auslieferung von Verbrechern und Angeschuldigten. Extraciition de
criminels et d'accusés.

81. Urteil vom 3. Oktober 1901 in Sachen Bern gegen Aargau.

Die Frage, was Auslieferungsdeh'kt sei, beurteilt sich nach dem
Ausle'eferwegsgesetzss (von 1852) selbst, nicht nach den kantonalen
Straf- gesetzesin. Verfolgung wegen Ueberée'etemg des (bee-niscizen)
Lebensmittelîzalézeigeseèzes: fallen die inke'iminierien [landi-wegen
unter den Tleazbestand des Betrugs ?

A. Die Firma (S,. Herdy, Weinhandlung in Zosingen, deren Inhaberin Frau
Catharina Herdy isf, hatte durch den Ehemann der letztern Adolf Herdy
als Prokuristen und den Reisenden R. Hunziker verschiedenen Witten
im Kanten Vern Wein verfaust. Diese Weine wurden von den zuständigen
Sanitätsbehörden (Anssichtsbeamter und Kantonschemiker) als Knnstweine
oder doch nicht reine Naturweine erklärt,1vorauf die Direktion des
Innern in der Sache vor den zuständigen Richterämtern von Rideau, Viel,
Priintrut und Aargan Strafklage erhob. Die Strafverfolgung richtete sich
einerseits, wenigstens in einigen der Fälle, gegen die betreffenden Kaufen
anderseits überall auch gegen die beiden Eheleute Herdy. Beschuldigt
wurden die Beklagten der Übertretung des § 12 Biff. II des kantonalen
Lebensmittelgesetzes vom 26. Hornung 1888, worin eine grössere Zahl von
Thatbeständen verkehrspolizeilicher Natur sowohl bei vorsätzlicher als
bei fahrlässiger Zuwiderhandlung unter Strafe gestellt werden

B. Zwecks Durchführung dieses Strafversahrens stellte der Regierungsrat
des Kantons Bern auf Antrag der betreffenden Untersuchungsbehörden beim
Regierungsrate des Kantons Aargau gestützt auf das Bundesgefetz vom
24. Juli 1852 das Begehrendie Ehelente Herdy, welche im Kanton Bern wegen
Widerhandlung gegen das herniscbe Lebensmittelpolizeigesetz resp. wegen
Betruges verfolgt seien, ansznliefern, eventuell aber, sie im Kanton

476 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. H. Abschnitt. Bundesgesetze.

Aargau nach aarganischen Gesetzen beurteilen und bestrafen zu lassen.

sDer aargauische Regierungsrat entgegnete hierauf was folgt: Bei ihrer
Einvernahme über das Auslieferungsbegehren hätten die Eheleute Herdy
erklärt, dass sie dasselbe bestreiten und sich ihm nicht unterziehen
Demselben gleichwohl zu entsprechen, gehe nicht an: Die Eheleute
Herdy seien laut den Akten im bisherigen Untersuchungs-verfahren nie
wegen Betruges eitiert oder angeschuldigt worden, sondern nur wegen
Zuwiderhandlung gegen das bernische Lebensmittelpolizeigesetz. Dieses
Vergehen falle aber nicht unter Art. 2 des Auslieferungsgesetzes, sondern
qualifiziere sich als eine blosse Polizeiübertretung, um derentwillen nach
konstanter Praxis die Auslieferung nicht zu bewilligen fei. Anderseits
könne im Kant-on Aargau eine Strafverfolgung der Eheleute Herdy nicht
stattfinden, weil daselbst kein Lebensmittelpolizeigesetz bestehe.

C. Aus dies hin unterbreitete der bernische Regierungsrat die streitige
Auslieferungsfrage innert nützlicher Frist dem Bundesgerichte zur
Entscheidung Die Eheleute Herbie), führte er dabei aus, seien beschuldigt,
das bemische Lebensmittelpolizeigesetz dadurch übertreten zu haben, dass
sie an mehrere Personen im Kanten Bern falschen Wein geliefert hätten,
solchen als Naturwein ausgebend. Diese Handlung qualifiziere sich als
Betrug im gemeinrechtlichen Sinne und auch nach bernischem Rechte, indem
die Bestimmungen des Lebensmittelpolizeigesetzes als Abänderung früherer
strasrechtlicher Bestimmungen sich in das Strafgesetzbuch einschieben
und zwar unter dem Abschnitt, der von der Prellerei und vom Betrug
handle. Man habe es also mit einem Auslieferungsdelikt im Sinne des
Bundesgesetzes zu thun. Halte die aargauische Regierung eine Bestrafung
der Angeschuldigten im Kanton Aargau nicht für angängig, so müsse sie
eben die Auslieferung gewähren. Denn sonst würden die Angeschuldigten
thatsächlich straflos bleiben, indem ein Kontumazialverfahren im Kanton
Bern nach bundesgerichtlicher Rechtssprechung unzulässig wäre-

D. In seiner Vernehmlassung begründet der Regierungsrat des Kantons
Aargau des längern den bisher von ihm in der Angelegenheit eingenommenen
Rechtsstandpunkt.

E. Zur weitern Aufklärung des Sachverhaltes beschloss das Bundesgericht,
ein Gutachten der aargauischen Strafbehörden überH. Auslieferung von
Vèrbrechem und Angeschuidigien. N° 81. 477

Edie Frage einzuholen, ob nicht trotz dem Mangel einer Spezialgesetzgebung
im Kanton Aargau über die Lebensmittelfälschungen eine Bestrafung
der inkriminierten Handlungen nach den Bestimmungen des aargauischen
Strafgesetzbuches über den Betrug möglich sei, oder ob eine Freisprechung
der Frau Herdy von einer in diesem Sinne lautenden Anklage seitens der
zuständigen aargauischen Gerichte mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten wäre-

Das fragliche Gutachten wurde von der aargauischen Staatsanwaltschaft
erstattet und gelangte unter näherer Begründung zu nachfolgendem
Resultate: Prinzipiell sei anzuerkennen, dass sehr wohl der Verkauf
und die Lieferung von verfälschten Lebensmitteln als Vermögensdelikt
des Betruges im Sinne von § 160 des peinlichen Strafgesetzbuches sich
darstellen könne, sofern nur im betreffenden Falle die sämtlichen
Thatbestandsmerkmale des Betruges vorhanden seien, namentlich also
Jrreleitung des Käufers durch arglistige Entstellung oder Vorenthaltung
der Wahrheit über die Ware und eine durch diese Jrreleitung veranlasste
verfmögensschädigende Handlung des Käufers. Diese Voraussetzungen seien
aber hier nicht gegeben. Die Strafanzeige sei nicht wegen Betruges und
durch den allfällig Betrogenen erfolgt und die Untersuchung habe sich mit
dem Vorhandensein der erwähnten Thatbestandsmerkmale nicht befasst. Dass
daher auf Grund der vorhandenen Untersuchungsakten eine Freisprechung der
Frau Herdy von einer Betrugsanklage zu erwarten sei, dürfe zuverstchtlich
bejaht werden. Ob eine Bestrafung oder Freisprechung erfolgen werde, wenn
dem aargauischen Richter eine vollständige Untersuchung wegen Betruges
unterbreitet merde, könne die Staatsanwaltschast nicht Beurteilen,
weil sich dies als eine Frage der Beweisqualität des konkreten Falles
darstelle und bezügliche Beweise bisher nicht erhoben worden seien.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Wie der Regierungsrat des Kantons Bern durch die seinem
Auslieferungsbegehren gegebene Begründung selbst zuzugeben scheint, kann
es für die Frage, ob eine bestimmte Handlung als Auslieferungsdelikt
nach Art. 2 des Bundesgesetzes vom 24. Juli 1852 zu betrachten sei,
nicht darauf ankommen, ob sie gemäss der besondern Fassung, welche das
kantonale Recht dem Begriffe des betreffenden Deliktes gegeben hat,
unter diesen Begriff falle

478 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

oder nicht Entscheidend ist vielmehr lediglich, welchen Sinn das

Bandes-gesetz selbst mit der von ihm gebrauchten Bezeichnung des-

Deliktes verbindet, und bei der Lösung dieser Juterpretationsfrage
wird wesentlich darauf Rücksicht zu nehmen sein, welche Bedeutung
dieser Deliktsbezeichnung im gemeinen Rechte und für dieSiegel in den
kantonalen Strafgesetzgebungen zukommt (ng. z. B. Amtl. Samml. der
bundesger. Entsch., Bd. XIV, Nr.31, S.191).

Darnach kann also allerdings der requirierte Kanton die
Auslieferungspflicht nicht durch eine Berufung darauf ablehnen,
dass- die... eingeklagte Handlung gemäss seiner Gesetzgebung den
Thatbestand eines andern, im Auslieferungsgesetz nicht erwähnten
Deliktes bilde. Dagegen ist doch in allen diesen Fällen Voraussetzung
der Pflicht zur Auslieferung, dass die betreffende Handlung auchim
Zufluchtskanton wenn auch unter anderm Namen überhaupt strafbar sei, und
so wenig im internationalen Verkehr eine Auslieferungspflicht in Fällen
anerkannt wird, in denen diedem Ver-folgten zur Last gelegte Handlung
im rZufluchtsstimt straflos ist, so wenig können die Kantoue gezwungen
werden, ihre Angehörigen einem andern Kauton zur Bestrafung wegen
Handlungen ausznlieferu, die sie selbst gar nicht unter Strafe gesetzt
haben. Dass nur das der Sinn des Auslieferungsgesetzess sein-kaum ergibt
sich auch daraus-, dass dasselbe den Kantonen sreistellt, in Fällen,
wo es sich um Auslieferungsdelikte handelt, anstatt der Auslieferung
die Beurteilung und Bestrafung des Ver-folgten selbst zu übernehmen;
es geht demnach davon aus, das eine solche Beurteilung und Bestrafung
im Zufluchtskanton m allen Fällen auch möglich sei. ss

Auchn noch eine andere Erwägung führt zu dieser Lösung. Würde man
fnamlich in solchen Fällen, wo es als sicher erstellt. erscheint, Fass
km Zufluchtskanton eine Bestrafung wegen der verfolgten Handlungen
ausgeschlossen ist, trotzdem eine Verpflichtung zur Auslieferung
statuieren und dadurch den Zufluchtskanton, der ja natürlich dann
von der Fakultät der eigenen Beurteilung Gebrauch machen würde, zur
Eröffnung und Durchführung eines zum vornherein aussichtslosen und mit
einer Freisprechung endenden Strafverfahrens zwingen, so wäre damit der
Strafanspruch des versolgenden Kantons konstituiert und jedes weitere
Verfahren wegen dieser Handlung zufolge des Grundsatzes ne bis in
idemli. Auslieferung von Verhrechern und Angeschuldigten. N" 81. 479-

ausgeschlossen Das hätte zur Folge, dass die auf dem Territorium des
versolgenden Kantons begangenen Zuwiderhandlungen in allen denjenigen
Fällen straflos bleiben würden, in denen sie von Einwohnern eines andern
Kantons begangen werden, dessen Strafgesetzgebung weniger ausgebildet
ist. Namentlich in Polizeifällen und in Fällen der Zuwiderhandlung
gegen Vorschriften der Lebensmittelpolizei würde diese Unmöglichkeit der
Durchführung der betreffenden Gesetzgebung gegen alle diejenigen, die sich
auf dem betreffenden Territorium eine Zuwiderhandlung zu Schulden kommen
lassen, von bedenklichen Folgen sein, und es würde die Durchführung der
bezüglichen Vorschriften geradezu unmöglich sein, wenn alle ausserhalb des
Kantons und an Orten mit weniger scharfen Vorschriften wohnenden Handler
und Lieferanten sich auf diese Art und Weise der Strafe entziehen könnten.

L. Wenn somit in solchen Fällen zwar eine Auslieferung-Zpflicht nicht
anerkannt werden kann, so ist dagegen der verfolgende Kanton dann
natürlich frei, die Strafverfolgung selbst, ohne an die einschränkenden
Bestimmungen des Auslieferungsgesetzes gebunden zu sein, durchzuführen
und das Urteil auf seinem Gebiete in Vollng zu setzen. Er kann also auf
dem Wege des Kontnmazialverfahrens gegen den Verfolgten vorgehen und das
Kontumazialurteil in Vollng bringen, sobald er des Verurteilteu habhaft
wird, oder die Möglichkeit hat, das Urteil im Vermögensobjekte desselben
zu vollstreckeu

3. Nach den vorstehend entwickelten Grundsätzen ist im vorliegenden
Falle Vorzugehen, da durch die Akten, namentlich auch das Gutachten
der aargauischeu Staatsanwaltschaft, festgestellt ist, dass diejenigen
Handlungen der Eheleute Herdy, welche die bernischen Strafbehörden zum
strafrechtlichen Einschreiten veranlassten, im Kanton Aargau nicht als
Betrug bestraft werden können.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird abgewiesen
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 27 I 475
Datum : 03. Oktober 1901
Publiziert : 31. Dezember 1902
Quelle : Bundesgericht
Status : 27 I 475
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 474 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. lI. Abschnitt. Bundesgesetze. weisen versucht,


Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
aargau • betrug • bundesgericht • frage • regierungsrat • gemeinde • wein • beschuldigter • strafgesetzbuch • auslieferungsdelikt • weiler • strafverfolgung • vorteil • entscheid • zahl • lieferung • begründung des entscheids • richterliche behörde • unternehmung • legitimation
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