46 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

Zweiter Abschnitt. Deuxieme section.

Bundesgesetze. Lois fédérales.I. Auslieferung zwischen
Kantonen. Extradition entre les cantons.

9. Urteil vom 28. März 1901 in Sachen Scheitlin und Genosse gegen
Frauenfelder.

Ausliefemngsdelikt eaach dem B.-Ges. betr. Auslieferung DW L'anime
zu Kanto-n. Pflicht des strafverfolgenéen Kantons, die Auslieferung;
zu verlangen.

A. Die heutigen Rekurrenten, Advokat Dr. (EUR. Scheitlin und
MüllerStenzel, beide in St. Gallen wohnhaft, hatten den Rekursgegner,
Advokaten Frauenfelder in Schaffhausen, der Unterschlagung beschuldigt
und Strafanzeige gegen ihn eingereicht. Die Untersuchung ergab die
völlige Unschuld des Angeschuldigten, und dieser erhob hierauf beim
Kantonsgericht Schaffhansen gegen die beiden Reknrrenten Strasklage
wegen falscher Anschuldigung. Die Sie-kurrenten wurden (nachdem sie
auf verschiedene Vorladungen vor das Kantonsgericht Schaffhausen hin um
Verschiebung ersucht hatten) durch Ladung vom 5. November 1900 auf den
14. gl. Mrs. zur Verhandlung als Angeklagte vorgeladeia

B. Mit Eingabe vom 10. November 1900 haben nunmehrScheitlin und Müller
den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen. Sie stellen
den Antrag, das bisherige Verfahren der Schaffhauser Untersuchungsbehörden
Und Strafgerichte-

-

gegen die Rekurrenten sei als ungültig zu kassieren und die
La-]. Auslieferung Zwischen Kantonen. Nf' 9. 47

dung zur Hauptverhandlung aufzuheben Der Rekurs stellt sich auf den
Standpunkt, durch das von den Schaffhauser Behörden eingeschlagene
Verfahren werde das Bundesgesetz betreffend Auslieferung von Kanton
zu Kanton (vom 24. Juli 1852) verletzt, und führt zur Begründung aus:
Das Delikt der falschen Anschuldigung, wegen dessen die Rekurrenten
verfolgt werden, falle unter die Auslieferungsdelilte des citierten
Bundesgesetzes; demgemäss hätten die Bestimmungen dieses Gesetzes ihnen
gegenüber beobachtet werden sollen; das sei nun aber nie geschehen. Sie
haben die Zuständigkeit der Schaffhauser Behörden nie anerkannt-; übrigens
seien sie bis zur Ladung vom 5. November 1900 nie als Angeschuldigte
behandelt worden, und es liege im Verfahren der Schaffhauser Behörden
daher auch eine Rechtsverweigerung. Der Rekurs sei weder verfrüht noch
verspätet, sondern rechtzeitig eingereicht.

C. Der Rekursgegner Frauenfelder führt in seiner Vernehmlafsung aus:
Die Frage des Gerichtsstandes sei durchaus getrennt von derjenigen der
Auslieferung zu behandeln. Die Kompetenz der Schaffhauser Gerichte scheine
unzweifelhaft begründet, und zwar sowohl als forum delicti commissi,
wie als forum acihæsionis, letzteres, weil die Klage wegen falscher
Anschuldiguug nach feststehender Praxis dem Hauptprozesse adhäriere Was
sodann das Auslieferiingsverfahren anbetreffe, so sei unverständlich,
wieso die Rekurrenten schon im gegenwärtigen Momente den staatsrechtlichen
Rekurs führen können. Sie könnten ja nicht gezwungen werden, vor dem
Schaffhauser Gericht zu erscheinen, und im Falle ihres Ausbleibens
werde das Gericht entweder schon vor der Aburteilung die Auslieferung
verlangen, oder die Rekrurenten in contumaejam verurteilen und dann die
Vollstreckuug bei der Regierung in St. Gallen nachsuchen. Die Auffassung
der Rekurrenten, das im Auslieferungsgesetz vorgesehene Verfahren sei
obligatorisch, sei irrig; eine Pflicht, die Auslieferung zu begehren,
bestehe nicht. Demgemäss beantragt der Rekursgegner: Die Zuständigkeit
der Schafshauser Gerichte set als vorhanden zu erklären; über die Frage
der Auslieferung sei nicht zu urteilen.

D. Das Kantonsgericht des Kantons Schasfhausen beantragt

48 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. Il. Abschnitt. Bundesgesetze.

Abweisung des Rekurses In rechtlicher Beziehung bemerkt es: Die
Kompetenzfrage werde erst in der Hauptverhandlung nach Anhörung der
Parteioorträge geprüft; übrigens sei der Gerichtsstand in Schaffhausen
gegeben gewesen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Als Hauptbeschwerdegrund erscheint die behauptete Verletzung des
Bundesgefetzes vom 24. Juli 1852 betreffend Auslieferung von Kanton zu
Kanton, während der Beschwerdegrund der Rechtsverweigerung nur nebenbei
herangezogen wird. Zur Beurteilung

jenes Hauptbeschwerdegrundes ist das Bundesgericht kompetent auf _

Grund einer feststehenden und unangefochtenen Praxis-. Ferner ist
durch diese Praxis festgestellt, dass der staatsrechtliche Rekurs wegen
Verletzung jenes Gesetzes in jedem Stadium des Verfahrens ergriffen werden
kann. Der vorliegende Rekurs ist also in der That, wie die Rekurrenten
bemerken, weder verfriiht noch verspätet. Es ist somit auf den Rekurs
in seinem ganzen Umfange einzutreten.

2. Die Frage des Gerichtsstandes scheint von den Rekurrenten nur nebenbei
gestreift zu werben; sie behaupten nicht, dass eine bundesrechtliche
Bestimmung über den Gerichtsstand in Strafsachen existiere, und dass diese
durch das Verfahren der Schaffhauser Behörden verletzt merde, sondern sie
machen geltend, die Gerichtsbarkeit der Schaffhaufer Behörden könne sich
für ein Auslieferungsdelikt nicht in der Weise, wie es hier geschehen
nämlich ohne dass die St. Galler Behörden angegangen worden wären auf
das Gebiet des Kantous St. Gallen erstrecken. Es ist daher unnötig,
vorliegend Über die Zuständigkeit der Schaffhauser Gerichte -die die
Rekurrenten nie anerkannt haben zu urteilen-

3. Was den Hauptbeschwerdegrund: Verletzung des mehrfach genannten
Auslieferungsgesetzes, betrifft, so unterliegt keinem Zweifel, dass die
falsche Anschuldigung mit Bezug auf Unterschlagung gemäss Art. 2 jenes
Gesetzes unter die Auslieferungsdelikte fällt. Die Bundesbehörden haben
nun in langjähriger Praxis (s. Entsch. d. Bundesger., Ath Samml. Bd.VI,
S. 556 f. Erw. 4, vom 3. Dezember 1880 in Sachen Sulzer, und dort eitierte
Entscheide) den Grundsatz aufgestellt, dass bei Ausliefe-[. Auslieferung
zwischen Kantonen. N° 9. 49

rungsdelikten für den Fall, dass der Angeschuldigte oder Verurteilte
sich nicht im Machtbereich des strafverfolgenden Kantons befindet, nicht
nur eine Pflicht des requirierten Kantons, die Auslieferung zu gewähren,
alternatio mit der Pflicht, den Angeschuldigten selber zu beurteilen und
zu bestrafen, oder eine bereits Über ihn verhängte Strafe vollziehen zu
lassen, bestehe, sondern auch eine Pflicht der strafverfolgenden Kantone,
die Auslieferung zu rerlangen. Wenn auch zugegeben werden muss, dass
diese Praxis sim Wortlaute des Gesetzes keinen unmittelbaren Anhalt hat,
da dieses nur von der Pflicht zur Auslieferung spricht, so ist doch an
jener langjährigen Praxis festzuhalten, aus folgenden Gründen: Nach der
frühem Bundesverfassung von 1848 waren die Kantone (wie sie es auch nach
der Verfassung von 1874 sind) souverän, soweit ihre Sonderänität nicht
durch die Bundesver-

fassung beschränktwau Da nun jene Bundesverfassung die Kom-

petenz der Kantone auf dem Gebiete des Strafrechts und der
Strafgerichtsbarkeit bestehen liess, mit ganz wenigen verbietenden
Bestimmungen (Art. 54: Verbot der Todesstrafe für politische

Vergehen), wären sich die Kantone ohne eine Bestimmung der

Bundesverfassung auf dem Gebiete-der Strafrechtspflege wie durchaus fremde
Staaten gegenübergestanden Im Wesen des Bandes-staates lag es aber, dass
die zwischenstaatliche Rechtshilfe vvon Kanton zu Kanton von Bandes wegen
geregelt werden musste, und die Kompetenz zu dieser Regelung wurde dem
Bunde gegeben durch Art. 55 der Bundesverfassung von 1848. In Ausführung
dieses Gedankens der zwischenstaatlichen, interkantonalen Rechtshilfe
ist demgemäss das Auslieferungsgesetz von 1852 entstanden. Wenn nun
dieses Gesetz zur Durchführung der interkantonalen Rechtshilfe die
Pflicht der requirierten Kantone zur Auslieferung bei gewissen Delikten
aufgestellt hat, so folgt aus dem Wesen des Bundesstaates als einer
engeren Staatengemein-

-schaft, dass anderseits der strafverfolgende Kanton gegen einen nicht
in seinem Machtbereiche befindlichen Bürger oder Nieder-

gelassenen eines andern Kantons für jene Delikte die Strafverfolgung
nur durchführe unter Berücksichtigung der Territorial: hoheit des
Wohnsitzkantons des Verfolgten. Wie nur durch die Vermittlung des letztern
die Vollziehung der Strafe erfolgen xxv11, i. 1901 &

50 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

kann (sofern der Verutteilte sich nicht im Machtbereiche des
verfolgenden Staates befindet), so kann auch nur durch die Vermittlung
des Wohnsitzkautons eine gehörige Ladung erfolgen. Damit wird zugleich
der zweite Hauptgedanke, der dem Auslieferungsgesetz zu Grunde liegt,
Schutz des Angeschuldigten, verwirklicht. Es ist daher in der That
bei Auslieferungsdelikten vorder Strafverfolgung das Verfahren
nach dem Auslieferungsgesetz von 1852 obligatorisch. Da nun das
von den Schaffhauser Behörden eingeschlagene Verfahren gegen diese
bundesrechtlichm Grundsätze verstösst, sind die Schaffhauser Behörden
anzuhalten, sofern sie die Verfolgung der Rekurrenten weiter betreiben
wollen, die Verfolgung der Rekurrenten nach dem im Auslieferungsgesetz
von 1852 vorgeschriebenen Verfahren durchzuführen Demnach hat das
Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird als begründet erklärt; demgemäss wird dasvom
Kantonsgericht Schaffhausen gegen die Rekurrenten angehobene
Strafverfahren im Sinne der Erwägungen aufgehoben.

II. Bau und Betrieb der Eisenbahnen. Etablissement et exploitation des
chemins de fer,

Vergl. Nr. 6, Arrét du 21 février 1901 dans la. cause.--

Gay, Chevallier & Cie contre Jura,-Simplon.

III. Organisation der Bundesrechtspflege. Organisation judiciaire
fédérale.

Vergl. Nr. 5, Arrèt da 6 mars 1901 dans la cause Hirt contre
Deinen.IV. Civilrechtliche Verhältnisse der Niedergelassenen und
Aufenthalter. 51_

IV. Civilrechtliche Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter.

Rapports de droit civil des citoyens établis 011 an séjour.

Vergl. Nr. 8, Urteik vom 17. Januar 1901 in Sachen Baselstadt gegen Bern.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 27 I 46
Datum : 28. März 1901
Publiziert : 31. Dezember 1902
Quelle : Bundesgericht
Status : 27 I 46
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : 46 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze. Zweiter Abschnitt.


Stichwortregister
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