444 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.
V. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen. Difl'érents de
droit public
entre cantons.
83. Urteil vom i. November 1900 in Sachen Solothurn gegen Aargau.
Klage eines K (méans gegen einen Naeiebarkantmz wegen Beeinträchtigung
des Staaésgebieées ern-et Gefährdung der Staatsbewohner ein-chi-
Schiessübungen. Staatsrecktliche Natur der Klage. Gremdsd'tze zur
Entschefsizmg hierüber.
A. Am Westausgang der Stadt Aarau, zwischen dieser und der etwa einen
Kilometer entfernten aargauisch-solothurnischen Kantonsgrenze, liegt
der Exercierplatz Schachen, auf dem seit Jahrzehnten sowohl die auf
dem Waffenplatz Aarau dienstthnen: den Truppen, als die freiwilligen
Schiessvereine, die Kadetten und die miiitärischen Vorunterrichtskurse
ihre Schiessübungen abhielten. Vor einigen Jahren ist für die Truppen
in den Gehten, etwa LI/si2 Kru. von der Stadt Aarau entfernt, ein
anderer Schiessplatz hergerichtet worden während die freiwilligen
Schiessvereine und die Teilnehmer am obligatorischen Vorunterricht,
sowie jedenfalls bis 1898 auch die Kadetten weiterhin den Schachen als
Schieszplatz benutzte-n. Es wird daselbst an zwei Stellen geschossen; an
beiden befinden sich in der Schnssrichtung hart an der soloihur. uischen
Grenze hohe Zielwälle, die als Kugelsänge dienen. Das Schiessplatzareal
gehört zum grössten Teil der Gemeinde Aarau; ein Ausschnitt, mit einem
der Zielwälle, ist Eigentum des Kantons Aargau. Weiter westwärts-,
auf Solothurner Gebiet, dehnt sich auf2 3 Kilometer ein offenes,
ebenes Gelände aus, durch welches sich die Aare windet und das zum Teil
mit Gehölz besetzt, zum Teil aber, insbesondere im Banne der Gemeinde
Niedererlinsbach, landwirtschaftlich bebaut und von verschiedenen Wegen
durchzogen ist.
B. Seit längerer Zeit suchte die Regierung des Kantons Solothurn,
veranlasst durch Beschwerden der beteiligten Gemeinden,V. Staatsreehtliche
Streitigkeiten zwischen Kantonen; N° 83. 445
teils durch direkte Vorstellungen bei der Regierung des Kantons Aargau,
teils durch Eingaben an den Bundesrat, zu bewirken, dass im Schachen
nicht mehr scharf geschossen werde, weil während des Schiessens
das bezeichnete Solothurner Gebiet gefährdet sei. Da der Zweck auf
die angegebene Weise nicht, oder doch nicht vollständig, erreicht
wurde, reichte der solothurnische Regierungsrat namens des Kantons
Solothurn am 12. Dezember 1899, unter Berufung ans Art. 113, Biff. 2
der Bundesverfassnng, Art. 175, Ziff. 2 und 177 des Bundesgesetzes
über die Organisation der Bundesrechtspflege, beim Bundesgericht eine
Klage ein mit dem Begehren, es sei dem Kanton Aargau zu verbieten,
auf dem Exereierplatze Schachen künftighin Schiessübungen abhalten zu
lassen. In thatsächlicher Richtung wird zusammenfafsend behauptet: Das
zu Solothurn gehörende, hinter den Zielwällen und in der Schusslinie,
sowie im Wirkungsbereiche der Jnfanteriewaffen liegende Gebiet werde
durch die Schiessübungen gefährdet, so dass es während der Abhaltung
derselben wegen der Gefahr der Fehlschusswirkung nicht betreten werden
könne und die notwendigen landwirtschaftlichen und andern Arbeiten
unterbleiben müssen. Rechtlich wird ausgeführt, in dem Verhalten des
Kantons Aargau liege ein Einbruch in die selbständige Gebietshoheit
des Kantons Solothurn. Dem Kanton Aargau stehe kein Recht zu, über sein
Territorium in der Weise zu oerfiigen, dass dadurch die Hohheitsrechte
der Nachbarkantone, die ihre positivrechtliche Grundlage in den Art. 2,
3 und 5 der Bundesverfassung hätten, Schaden litten.
C. In der Antwort stellt der den Kanton Aargan vertretende aargauische
Regierungsrat die Begehren: Es sei aus die Klage der Regierung des Kantons
Solothurn wegen Inkompetenz des Bundesgerichts als Staatsgerichtshof
nicht einzutreten. Eventuell sei die Regierung des Kantons Solothurn
mit ihrer Klage wegen mangelnder Aktivlegitimation abzuweisen, eventuell
wegen mangelnder Passivlegitimation der aargauischen Regierung Eventuell
sei die Klage als eine unbegründete zu erklären und die solothurnische
Regierung mit dem gegen den Kanton Aargau gestellten Begehren definitiv,
eventuell angebrachtermassen abzuweisen. Eventualifsime sei die Klage
bloss in der Weise gutzuheissemdass das Schiessen im Schachen verboten
merde, soweit nicht die nötigen Massnahmen zum Schutze des gefährdeten
solothurnischen Hinterlandes getroffen
446 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [. Abschnitt. Bundesverfassung.
werden. Das erste Antwortbegehren beruht auf der Behauptung, die
Streitigkeit sei eine civilrechtliehe, nicht eine staatsrechtliche.
Es handle sich nicht um eine Grenzftreitigkeit, und die Gebietshohheit
stehe nicht in Frage. Sondern Inhalt und Zweck der Klage sei die
Abwehr einer angeblichen Schädigung des im Hintergelände des Schachens
gelegenen Grundeigenturns, bezw. der betreffenden Grundeigentümer,
eventuell die Verletzung persönlicher Verhältnisse von Personen, die
sich im Hintergelände bewegen. Eine solche Abwehr, eventuell ein solcher
Angrisf sei civilrechtlichen Charakters und auf Grund des Civilrechts vor
dem Civil: richter zu verfolgen (mittelst actio negatoria, Verbot, Klage
aus unerlaubter Handlung u. s. w.). Aus den gleichen Gründen sei nicht der
Staat Solothurn, sondern es seien bloss die Träger der betreffenden Rechte
legitimiert, wegen ihrer Verletzung klagend aufzutreten. Jedenfalls aber
fehle dem Kanton Aargan die Passivlegitimation, weil der Schiessplatz auf
dem Gebiete der Gemeinde Aarau liege und zum grössten Teil dieser gehöre,
und weil nicht der Kanton Aargau oder seine Organe dort schiessen, sondern
gewisse Korporationen, wie die freiwilligen Schiessvereine von Aarau und
das Kadettenkorpsz gegen diese hätte sich daher der Angriff zu richten;
der Kanton Aargau habe kein Recht und keine Macht, denselben die Benutzung
des städtischen Eigentums zu Schiesszwecken zu verhieten. Eventuell wird
die Klage als materiell unbegründet bezeichnet. Zunächst wird bestritten,
dass das solothurnische Hinterland durch die im Schachen abgehaltenen
Schieszübungen gefährdet werde. Sodann dürften die Schiessvereine nicht
auf den Schiessplatz in den Gehren verwiesen werden, weil derselbe nicht
auf dem Gebiete der Gemeinde Aarau liege, diese aber verpflichtet sei,
jenen Vereinen einen angemessenen Schiessplatz auf ihrem Gebiete
anzuweisen (Art. 104 und 225 der schweiz. Miittärorganisation,
Art. 12, litt-. a der bundesrätlichen Verordnung Tiber die Förderung
des freiwilligen Schiesswesens vom 15. Februar 1893). Auch sonst würde
es mit Unzukömmlichkeiten ver-
bunden sein, wenn der Schiessplatz gänzlich in die Gehren verlegt _
werden wollte, wegen der grossen Entfernung, wegen Kollisionen mit den
militärischen Schiessübungen und mit den Schieszvereinen anderer Gemeinden
u. f. w. Das freiwillige Schiesswesen würde geradezu ertötet, wenn man
das Schiessen im Schachen untersagte.V. Staatsrechtliche Streitigkeiten
zwischen Kantonen. N° 83. 447
Unter keinen Umständen dürfte das Verbot so lauten, wie es im
Klagsbegehren gefordert sei.
D. In der Replik wird gegenüber der Kompetenzeinrede der beklagten
Partei ausgeführt: Ein Ausfluss des Hoheiisrechtes des Staates liege
darin, dass diesem die Pflicht obliege, für die allgemeine, öffentliche
Sicherheit von Personen und Sachen zu sorgen. Gegenüber denjenigen,
welche diese Sicherheit gefährden oder antasten, erwachse dem Staate das
Recht auf Abwehr. Dieser Titel sei staatsrechtlicher Natur. Innerhalb
des Kantonsgebiets könnte zweifellos der Träger der Staatsgewalt
die Benutzung eines gefährlichen Schiessplatzes nntersagen, wie denn
auch die Bestimmungen des Bundes über die Errichtung und Benutzung von
Schiessplätzen auf die öffentliche Sicherheit Rücksicht nehmen. Vorliegend
könne die Regierung von Solothurn nicht direkt einschreiten, weil der
Schiessplatz auf aargauischem Gebiet liege. Nur der Regierung von Aargau
stehe dieses Recht zu. Dadurch nun, dass diese eine Schiessanlage bestehen
lasse, deren Benutzung die öffentliche Sicherheit des Kantons Solothurn
gefährde, würden Hohheitsrechte des letztern verletzt. In der Duldung
der Anlage liege eine die Rechte Solothnrns verletzende Handlung;
die Abwehr dieser Rechtsverletzung könne Solothurn nur vor dem für
interkantonale Konflikte solcher Art eingesetzten Gerichtshof verfolgen.
Dass Privatrechte mit in Frage stünden, ändere hier-an nichts. Die
gleichen grundsätzlichen Erwägungen führten, meint die Klagspartei, auch
zur Verwerfung der Einreden der mangelnden Aktiound Passivlegitimation.
E. Der Jnstruktionsrichter hat eine Expertise angeordnet und den Experten
die Fragen vorgelegt: i. Ob die auf dem Schiessplatz im Schachen zur
Zeit noch stattfindenden Schiessübungen eine Gefährdung der Sicherheit
des solothurnischen Hintergeländes mit sich führen können? edentuell
2. Ob sich diese Gefährdung durch besondere Schntzmassnahtnen
ausschliessen lasse? Auf Grund der Akten und eines unter Leitung
des Jnstruktionsrichters im Beisein der Parteivertreter abgehaltenen
Augenscheines haben die Experten folgendes Gutachten abgegeben:
Ad 1. Die Gefährdung des Hintergeländes auf beiden Schiessplätzen im
Schachen besteht für das Schiessen der freiwilligen Schiessvereine
mindestens in demselben Masse, wie für das mili-
448 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.
tärische Schiessenz und zwar ist diese Gefährdung unbedingt auch vorhanden
beim jetzigen obligatorischen Schiessen der Vereine, der Kadetten und
des Vorunterrichts Diese Gesährdungszone erstreckt sich bis aus etwa 2
Km. Entfernung von den Schützen und bis auf seitliche Abweichung von
etwa 50 0G (nahezu 30°), teils durch direkte Hoch: und Seitenschüfse
hervorgerufen, teils durch Aufschläger an Boden, Wasserflächen,
Sträuchern und Bäumen. Ad 2. "Eine künstliche Sicherung ist möglich,
jedoch nur so, dass mindestens zwei Hochblendungen quer vor jeden
Schiessstand und mehrfache Aufschlägerwälle quer vor jeden Scheibenstand
getegt werden. Diese werden jedoch so unfeldmässig unbequem und teuer,
dass die Experten den Rat geben, auch für die obligatorischen Ubungen
der Vereine, der Kadetten und des Vorunterrichts den Schiessplatz im
Schachen ganz aufzugeben. Dabei befürchten sie durchaus keine wesentliche
Beeinträchtigung des wirklichen freiwilligen Schiesswefens.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Dass gegen das Schiessen im Schachen, das zu untersagen die Regierung
des Kantons Solothurn von derjenigen des Kantons Aargau verlangt, von
den Eigentümern des angeblich gefährdeten Grund und Bodens-, vielleicht
auch von andern dadurch bedrohten Personen zum Schutze ihrer privaten
Rechte mit civilrechtlichen Klagen aufgetreten werden könnte, ist
für die Frage, ob die vorliegende Streitigkeit civilrechtlicher oder
staatsrechtlicher Natur sei, ohne Bedeutung Vielmehr kommt es hiesür
einfach auf den Charakter des eingeklagten Anspruches ab, wie er sich
aus dem Wortlaut und der Tendenz des gestellten Begehrens, sowie aus
der Klagsbegründung ergibt. Und da ist nun klar, dass die Regierung
des Kantons Solothurn nicht einen, aus der Verletzung privater Rechte
herrührenden civilrechtlichen Anspruch gegenüber dem Kauton Aargau
erhebt, dass sie vielmehr eine staatsrechtliche Streitigkeit zum
Entscheide bringen will. Sie leitet ihren Anspruch daraus her, dass
die Gebietshoheit des Kantons Solothurn, und überhaupt ihre Rechte
als selbständiges staatliches Geh-Elbe von Seite des Kantons Aargau
missachtet werden, und il? fasst auch den letztern nicht als Träger
von privaten Rechten, sondern als Staat, der als solcher die Rechte des
benachbarten Kantons respektieren soll, und speziell als Verwalter der
Sicher-V. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen. N° 83. 449
heitspolizei, der aus seinem Territorium nichts dulden soll, was
die Sicherheit von Land und Leuten des Nachbarstaates gefährdet, ins
Recht. Selbst wenn wirklich nur private Rechte Dritter und solche des
Staates in Frage kommen könnten, so wäre dies nur ein Grund, den Anspruch
abzuweisen, dagegen würde deshalb der Streit, wie er eingeleitet ist,
noch keineswegs zu einem civilrechtlichen und könnte es auch in diesem
Falle der Kantou Aargau nicht ablehnen, aus die staatsrechtliche
Klage des Kantons Solo: thurn Rede und Antwort zu geben, und sich
der Gerichtsbarkeit des Bundesgerichts, dem in Art. 113, Ziff. 2 der
B.-V. und Art. 175, Biff. 2 des Bundesgesetzes über die Organisation
derBundesrechtspslege die Entscheidung staats-rechtlicher Streitigkeiten
zwischen Kantonen übertragen ist, zu unterwerfen.
2. Hievon ausgegangen erweist sich auch die beklagtische Bestreitung
der Aktivlegitimation des Regierungsrates des Kantons Solothurn und
der Passivlegitimation desjenigen von Aargau als völlig verfehlt. Es
handelt sich um einen Anspruch, den ein Kanton einem andern Kauton
gegenüber erhebt. Solothurn und Aargau treten sich als staatliche
Organismen gegenüber; als solche sind sie die Parteien, die Subjekte
des Rechtsstreits Jnsbesondere ist die Passivlegitimation des Kantons
Aargau gegeben ohne Rücksicht darauf, ob er Eigentümer des Schiessplatzes
Schachen sei und ob er bezw. seine Behörden bei der Organisation der
Vereine und Korps, die dort schiessen, oder bei der Veranstaltung ihrer
Schiessübungen direkt mitzuwirken haben oder nicht. Es wird auch nicht
bestritten,dass die Vertretung hoheitlicher Rechte eines Kantons im
Verkehr mit einem andern der Regierung zukommt und dass diese umgekehrt
nach aussen für die Erfüllung der staatlichen Pflichten des Kantons
einzustehen hat. Es konnte daher gar nicht anders geklagt werden, als
wie es geschehen ist.
3. Das thatfächliche Klagefundament besteht darin, dass durch die
Abhaltung von Schiessübungen im Schachen das folothurnische Hintergeläude,
das Land und die darauf sich bewegenden Leute gefährdet werden. Das
Klagefundament ist verneint worden. Allein die Expertise, auf welche
beide Parteien abgesteckt haben, und die naturgemäss entscheidend sein
muss, um so mehr als damit im Schiesswesen theoretisch und praktisch
erfahrene Männer betraut worden sind, ist zu Gunsten der Klägerschast
458 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.
ausgefallen. In rechtlicher Beziehung ist zunächst den Art. 2, 3 und 5
der Bundesverfassung eine den vorliegenden Rechtsftreit entscheidende
Norm nicht zu entnehmen. Art. 2 umschreibt die Zwecke des Bandes und hat
an sich mit dem Verhältnis der Kantone unter einander nichts zu thun. Und
wenn in Art. 3 die Kantone, innerhalb der Schranken der Bundesverfassung,
als souverain erklärt sind, wenn ferner in Art. 5 derselben ihr Gebiet und
ihre Souveränität garantiert ist, so kann daraus ebenfalls für die Frage,
welches der materielle Jnhalt der Sonderänität und der Gebietshoheit
im Verhältnis der Kantone zu einander sei, nichts gewonnen werden. Zur
Bestimmung dieses Jnhalts und überhaupt zur Beantwortung der Frage nach
den gegenseitigen staatlichen Rechten und Pflichten der Kantone ist
vielmehr aus die Normen des allgemeinen Völkerrechts zurückzugreifen,
wobei ferner das bundesstaatliche Verhältnis der Kantone nicht ausser
acht gelassen werden darf. So verschieden nun auch der Begriff der
Sonderänität und der Gebietshoheit bestimmt wird, soweit es sich um das
Verhältnis nach innen, zum Staatsgebiet und den darauf befindlichen
Personen und-Sachenhandelt, so steht doch für das Verhältnis nach
aussen, zu andern Staaten, so viel fest, dass aus der Souveränität und
der Gebietshoheit bestimmte absolute, von den andern Staaten unbedingt
anzuerkennende Rechte herfliessen, darunter namentlich das Recht der
unbeschränkten Herrschaft über Land und Lente. Dieses Recht schliesst aber
weiterhin jede Einwirkung eines andern Staates auf das Gebiet des eigen-en
oder dessen Bewohner aus, und zwar nicht nur die Anmassung und Ausübung
von Hoheitsrechten des eigenen Staates, sondern auch ein thatsächliches
Hinübergreifen, das die natur-gemässe Benutzung des Territoriums und
die freie Bewegung seiner Bewohner beeinträchtigen könnte (ng. hier
Heffter-Gesfcken, Völkerrecht, 7. Aus-l., S. 67; Pradier Fodéré, Droit
infernal. public, tome II, §§ 772 u.838 ff..) Von diesem Gesichtspunkte
aus erscheint denn in der That durch das Verhalten des Kantons Aargau der
Kanton Solothurn in seiner Gebietshoheit und in seiner Souveränitäi als
verletzt. Wenn hiegegen eingewendet werden wollte, dass der Kanton Aargan
seinerseits sein Gebiet benutzen bezw. benutzen lassen könnewie es ihm
beliebe, so ist darauf zu erwidern, dass auch im Völ-V. Staatsrechtliche
Streitigkeiten zwischen Kantonen. N° 83. 451
kerrecht, speziell im bundesstaatlichen Verhältnis-, der nachbarrechtliche
Satz gilt, dass die Ausübung des eigenen Rechts nicht dasjenige des
Nachbars beeinträchtigen darf; die Rechte sind gleichwertig, und im
Konfliktsfalle muss ein vernünftiger Ausgleich nach den natürlichen
Verhältnissen Platz greifen (vgl. die von der Klagspartei angeführten
bundesgerichtlichen Urteile in Sachen Zürich gegen Aargau und Waadt
gegen. Genf, A. S., Bd.1V, S. 46 und Bd. V, S. 186). Vorliegend mutet
der Kanton Aargau dem Kanton Solothurn die Duldung von Einwirkungen
zu, die sich ein Privateigentümer von seinem Nachbarn nur auf Grund
einer Servitut gefallen zu lassen brauchte und die sich auch ein
Kanton verbeten farm, so lange er nicht infolge des Bestehens einer
eigentlichen Staatsdienstbarkeit zu Gunsten des Nachbarkantons zur Duldung
verpflichtet ist. Zum gleichen Resultate führt eine andere Betrachtung:
Der Kanton Solothurn hat kraft seiner Sonderanität Recht und Pflicht,
für die allgemeine öffentliche Sicherheit der Bewohner seines Gebietes zu
sorgen. Den persönlich oder in ihrem Vermögen verletzten oder bedrohten
Privatpersonen oder Korporationen könnte er es dann überlassen, sich
selbst zu schützen, wenn dieselben bestimmt oder bestimmbar waren,
während die Aufgabe der Gesamtheit bezw. ihrer Organe beginnt, sobald
unbestimmte Personen und Sachen den Gefahren ausgesetzt sind; übrigens
wäre es fraglich. ob nicht nach aussen der Kanton·berechtigt sei, die
individuellen Rechte und Interessen einzelner seiner Angehörigen zu
vertreten. Recht und Macht eines Kantons, zu gebieten und zu verbieten,
reichen aber nicht über seine Grenzen hinaus. Wenn daher von einem
andern Kanton aus Land und Leute in einer Weise bedroht werden, dass ein
staatliches Einschreiten geboten erscheint, so kann der bedrohte Kanton
von dem andern verlangen, dass dieser kraft seiner Gewalt den Ubelstand
abstelle. In einem solchen Falle muss die Pflicht zur Rechtsohülfe an die
Stelle des Rechts zur Selbsthulfe treten, die dem Wesen des Bundesstaats
wider-spricht und welche in der schweizerischen Eidgenosfenschaft vollends
nach ihren historischen Grundlagen und nach der ausdrücklichen Vorschrift
in Art. 14 der Bundesverfassung unzulässig ist.
4. Muss danach angenommen werden, dass der Kanton Solothurn von Seite
des Kantons Aargau in seinen staatlichen Rech-
452 A. Slaatsrechdiche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.
ten verletzt sei und dass ihm gegenüber letzterem der Anspruch zustehe,
dafür zu sorgen, dass die gefährdende Einwirkung in Zukunft unterbleibe,
so muss die Klage gutgeheissen werden ohne Rücksicht darauf, ob es
dem Kanton Aargau mehr oder weniger schwer falle, seiner Pflicht zu
genügen. Der Einwand, dass ihm hier überhaupt die Macht fehle, ist kaum
ernsthaft gemeint, da ja selbstverständlich die staatlichen Behörden
kraft ihrer Polizeigewalt jederzeit das Schiessen im Schachen verbieten
oder von der Errichtung vermehrter Sicherheitsvorrichtungen abhängig
machen können. Auch darauf kann für den Entscheid nichts ankommen, dass
die Verlegung des Schiessplatzes an einen andern Ort bezw. die bessere
Herrichtung desselben für die Schiessvereine von Aarau u. s. w. mit
gewissen Unzukömmlichkeiten (und vielleicht auch mit Kosten) verbunden
sein mag, wobei übrigens daran erinnert sei, dass nach den Erperten
eine Gefahr, dass das freiwillige Schusswesen erheblich leiden möchte,
nicht besteht. Immerhin ist das Klagsbegehren zu absolut gefasst,
als dass es so, wie es Iautet, zugesprochen werden könnte. Es muss
dem Kanten Aargau freistehen, statt die Benutzung des Schachens zu
Schiessübungen überhaupt zu untersagen, dafür zu sorgen, dass daselbst
Anlagen erstellt werben, die jede Gefährdung solothurnischen Gebiets
ausschliessen. Die bundesgerichtlichen (Experten geben selbst einen Weg
cm, wie die Sicherung bewerkstelligt werden fònnte; es ist möglich,
dass der gleiche Zweck auch auf andere Weise erreicht werden kann.
Demnach hat das Bandes-gerächt erkannt:
Die Klage wird in dem Sinne gutgeheissen, dass es dem Kanton Aargau
untersagt wird, die Schiesseinrichtungen im Schachen in bisheriger Weise
zu benutzen.Il. Erteilung des Schweizerhürgerrechtes und Verzicht auf,
dasselbe. N° 84. 453
Zweiter Abschnitt. Deuxième section. Bundesgesetze. Lois fédérales. M
I. Bau und. Betrieb der Eisenbahnen.
Etablissement et exploitation des chemins de fer.
S. Nr. 81, Urteil vom 1. November 1900 in Sachen
Jura-Simplonbahn-Gesellschaft gegen Clere.
II. Erteilung des Schweizerbürgerrechtes , und Verzicht auf
dasselbe. -Naturalisation et renonciation à. 1a nationalité suisse.
84. Urteil vom 12. Dezember 1900 in Sachen Wunderli gegen Zurich.
Stellan-g der Kantomregierung bei einem Begehren um Entlassung aus
dem Schweizerbürgerrecht. Ist das Requise't des Art. 6 lett. c B.-Ges.
betr. Ssäweizerbürgerrecht erfüllt?
A. Am 9. September 1900 richtete der von Hecht-Meilen gebürtige, in
Sacramento (Californien) wohnhafte Johannes Wunderli an den Regierungsrat
des Kantons Zürich ein Seine? um Entlassung aus dem zürcherischen Kantons:
uno Gemerndeburger: recht. Zur Begründung des Gesuches legte er Bet:
1 eine unterm 15. August 1900 in Sacramento ausgestellte Erklarung,
dass er auf das Gemeindebürgerrecht in Meilen, das zürcherische Kantons-