40 Civilrechtspflege.

dings geringeres Gefälle aufwies, eine gewisse Gefahr für diejenigen,.
die dieselben durch Unterlage von Ladenstücken aufhalten sollten, eine
Gefahr-, die Troller erkennen musste; auch der Umstand, dasseiner der
Wagen etwas breiter war und dass dieser deshalb mit seinen Wänden nahe
an die Kohlenlager, zwischen die er hineingestossen wurde, heranreichen
werde, durfte ihm nicht entgehen. Allein anderseits war er berechtigt,
anzunehmen, dass auch seine

Gehilfen die Situation und die mit dem Manöver verbundene-

Gefahr überblicken und dass namentlich die mit dem Aufhalten der Wagen
betrauten Arbeiter ihren Standort so wählen würden,

dass sie sich dem Eingedrücktwerden zwischen Wagenwand und Koh -

lenhausen nicht aus-setzten, und unter solchen Umständen kann sein

Verhalten jedenfalls nicht ein grob fahrlässiges genannt werden

3. Erscheint aber sonach ein Anspruch aus Art. 7
Eisenbahnhastpslichtgesetz als unbegründet, so muss im übrigen das Urteil
des solothurnischen Obergerichts ebenfalls bestätigt werden. Die

einzelnen Faktoren der Schadensberechnung sind nicht angefochten-

worden mit Ausnahme des von der Vorinstanz für Verminderung

der Erwerbsfähigkeit angenommenen Prozentsatzes. Es ist jedoch-

klar, dass in dieser Richtung von dem Gutachten der medizinischen

Sachverständigen nicht abgegangen werden fanti, da man sonst in,

das Gebiet des arbiträren gelangen würde. Da ferner die Rechnungsweise
durchaus dem Gesetz und den Regeln entspricht, die die bundesgerichtliche
Rechtssprechung befolgt, so ist die gefundene Summe von 5500 Fr. ohne
weiteres zu acceptieren. Gerechtfer-

tigt ist endlich auch der Abzug von 34 Fr. 50 (en., d. h.des-

Betrages, den die Beklagte für die Spitalverpflegung des Klägers ausgelegt
hat. Denn wenn und so lange sie aus diese Weise für den Unterhalt
des letztern auskamx brauchte sie ihm auch nicht den vollen Lohn zu
leisten, von dem der Kläger einen Teil ebenfalls für seinen Unterhalt
hätte aufwenden müssen. Die Höhe des Abzugs aber scheint durchaus nicht
übersetzt. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Die Berufung wird verworfen und das angefochtene Urteil des--

Obergerichts des Kantons Solothurn in allen Teilen
bestätigtlIl. Haftpflicht der Eisenbahnen bei Tödtungen und
Verletzungen. N° 8. 41.

S. Urteil vom 24. März 1898 in Sachen Stamm gegen Birsigthalbahn.

Verschulden des Haftpflichte'gen ? Kaumlzusammenhang und
Schaden. -Ditigenzpflicftt der Strassenbahnen. Mitversclmlde-n des
Klägers. Art und Mass der Entschädigung. Nachklagevorbehait. Frais;
für denselben.

A. Der am 25. November 1885 gebot-ene, taubstumme und in; der
Taubstummenanstalt Riehen untergebrachte Rudolf Stamm von Thayngen befand
sich Sonntags-, den is. September 1896, bei seiner Mutter in Basel auf
Besuch und ging nachmittags mit den Eheleuten Leppert, Hausgenossen seiner
Mutter-, spazieren. Etwa um 4 Uhr kamen sie vom zoologischen Garten her
gegen die Binningerstrasse, um quer über diese zur Güterstrasse zu ge-
langen. Die Eheleute Leppert waren etwas vorausgegangen und hatten den
Knaben aus den Augen gelassen. Dieser war durchdie Anlagen hindurch
nachgefolgt, wurde aber auf der Binningerstrasse, auf der gleich neben
dem Trottoir das Geleise der Mistgthalstrassenbahn sich befindet,
von der Lokomotive eines von Binningen her kommenden Zuges von hinten
erfasst, zu Boden geworfen und eine Strecke weit, bis der Zug zum Stehen
gebracht werden konnte, auf der kothigen Strasse vorwärts geschoben Die
untern (Extremitäten gelangten dabei unter den vorn an der Lokomotive
angebrachten Schutzrahmen und wurden derart zugerichtet, dass in der
Folge das linke Bein über dem Knie in der Mitte des Oberschenkels,
das rechte unterhalb des Knie-Z amputiert werden mussten.

B. Der Verletzte erhob wegen dieses Unsalls durch den ihm bestellten
Vormund gegen die Birsigthalbahn-Aktiengesellschaft, gestützt auf das
Eisenbahnhaftpflichtgesetz, gerichtliche Klage aufSchadenersatz. Er
forderte neben dem Ersatz für beschädigte Kleidungsstücke mit 38 Fr. 50
Cis- der Tran-Sport: und Papstegungskosten mit 227 Fr. 50 Età, sowie
der Kosten für Anschaffung der ersten Stelzfüsse und künstlichen Beine
mit 160 Fr. und 500 Fr. und derjenigen für Neparatur und Unterhalt der-

42 Ci vilrechtspflege.

künstlichen Gliedmassen im Betrage von 100 Fr. bis zum 20. Alters-fahre
und 70 Fr. für später oder kapitalisiert von 8700 Fr., eine Entschädigung
von 20,000 Fr eventuell eine sicherzustellende Rente von 1200 Fr. per
Jahr, für dauernde Verminderung der Arbeitsfähigkeit, die auf 80 0/0
geschätzt und bei deren Umwertung von einem mutmasslichen zukünftigen
Einkommen von 1500 Fr. ausgegangen wurde, und 1000 Fr. Schmerzensgeld,
letzteres gestützt dar-auf, dass die Beklagte bezw. ihre Leute
ein grobes Verschulden treffe; überdies wurde um Aufnahme eines
Rektifikationsvorbehalts für den Fall der Verschlimmerung des
Gesundheitszustandes des Klägers nachgesucht Die Bahngesellschaft
bestritt ihre Haftpflicht grundsätzlich, weil der Unfall durch höhere
Gewalt, oder durch die Schuld des Verletzten oder dritter Personen,
der Eheleute Levpert, herbeigeführt worden sei. Eventuell wurden die
Anfätze für beschädigte Kleider, für Transportund Verpflegungskosten,
sowie für die Anschaffung künstlicher Gliedmassen anerkannt, ebenso
die Kosten für Reparaturen und Unterhalt derselben, diese immerhin nur
in der Form einer Rente, in der vom Kläger angegebenen Höhe. Dagegen
wurde der Posten für Verminderung der Arbeitsfähigkeit auch unter der
Annahme der Haftpflicht der Beklagten bestritten, und zwar in erster
Linie im ganzen Umfange, weil der Kläger im Zeitpunkte des Unfalls
überhaupt noch nicht erwerbsfähig gewesen fei, eventuell der Höhe nach,
weil die Einbusse nicht so hoch zu tarieren sei. Auch hier wäre, wurde
beigefügt, die Entschädigung in der Form einer Rente zuznsprechen, die
sicher zu stellen die Beklagte sich anerbot. Gänzlich bestritten wurden
auch die Forderung eines Schmerzengeldes und das Begehren um Vorbehalt
der Nachtlage, welche jedenfalls nur für ein Jahr zu gestatten ware.

G. Das Civilgericht des Kantons Baselstadt verwarf laut seinem
Urteil vom 11. Januar 1898 die Einreden der höhern Gewalt und
des Selbstverschuldens des Klägers, sowie des Verschuldens dritter
Personen, der Eheleute Leppert, das übrigens auch deshalb die Beklagte
nicht befreien könnte, weil ihr selbst auch eine Schuld an dem Unfall
beizumessen sei. Tie Natur und Höhe der bestrittenen Posten betreffend
erklärte das Civilgericht zunächst, dass die Zuerkennung einer Rente den
Verhältnissen entspreche{H. Haftpflicht der Eisenbahnen bei Tödtungen
und Verletzungen. N° 8. 43

und zwar sowohl für die zukünftigen Heilungskosten, als für die
Einbusse an Erwerbsfähigkeit. Bei der Bemessung der letztern wurde
auf das gerichtsärztiiche Befinden abgestellt, das dieselbe auf
80 0]0 veranschlagt hatte, anderseits aber angenommen, dass die
Erwerbsmöglichkeit eines Taubstummen ohnedies eine beschränkte sei. Der
Ausfall wurde demnach auf 300 Fr. für drei Jahre vom 16. Altersjahre an
und auf 800 gr. für die Folgezeit festgesetzt Die grobe Fahrlässigkeit
wurde verneint und demgemäss die Forderung eines Schmerzengeldes
abgewiesen, dagegen das Begehren um Vorbehalt der Nachklage gutgeheissen,
jedoch nur für ein Jahr, da nach dem ärztlichen Gutachten wohl nach
Verfluss dieses Zeitraumes die Folgen des Unfalls abschliessend bestimmt
werden könnten. Demnach wurde, indem ausser den anerkannten fälligen
Posten die Unterhaltsbeträge bis zum Urteilstage des Klägers in der Form
einer sofort zu entrichtenden Geldsumme, die übrigen Posten in der Form
einer in bestimmten Raten zahlbaren Rente bezw. einer später zu zahlenden
Aversalsumme ausgesetzt wurden, erkannt:

I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu bezahlen:

1. 546 Fr. und Zins à 5 ,.J seit 13. September 1897 Tag der Mage); -

2. Vom 25. November 1897 bis 25. November 1905 eine Jahresrente von 100
Fr. praenumerando am 25. Februar, 25. Mai, 25. August und 25. November
jeden Jahres-, in Raten von 25 Fr. zahlbar;

3. 500 Fr fällig am 25. November 1905;

4. Vom 25. November 1905 an eine lebenslängliche Jahresrente von 70 Fr.,
zahlbar praenumerando in Raten von 35 Fr. am 25. Mai und 25. November
jeden Jahres;

5. Vom 25. November 1901 bis 25. November 1904 eine Jahresrente von
300 Fr., in Raten von 75 Fr. praenumerando am 25. Februar, 25. Mai,
25. August und 25. November jeden Jahres zahlbar;

6. Vom 25. November 1904 an eine lebenslängliche Jahresrente von 800 Fr.,
in Raten von 200 Fr. praenumerando am 25. Februar, 25. Mai, 25. August
und 25. November jeden Jahres zahlbar.

H. Die Beklagte wird bei ihrem Anerbieten behaftet, die unter

44 civilrechtsptlege.

2 bis 6 zugesprochenen Leistungen durch Deposition erftklassiger
Wertpapiere bei der Gerichtskasse sicher zu stellen.

IH. Die Beklagte wird bei ihrer Anerkennung behaftet, dass

dem Kläger für den Fall der Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes
während eines Jahres, vom Urteilstage an, die Rektisizierung des Urteils
vorbehalten sei.

Das Appellationsgericht des Kantons Baselstadt, an das beide-

Parteien den Streit weitergezogen hatten, bestätigte mit Urteil vom
14. Februar 1898 dasjenige des Civilgerichts, im Anschluss an dessen
thatsächliche und rechtliche Ausführungen

D. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien rechtzeitig und sormgemäss
die Berufung an das Bundesgericht erklärt. Der Kläger beantragt
Aufhebung des vorderrichterlichen Cntscheides hinsichtlich Ziff. I,
5 und 6 des Dispositivs und Zusprechung der eingeklagten Entschädigung
von 20,0()0 Fr eventuell von 1200 Fr. Rente per Jahr; ferner Zusprechung
eines Schmerzensgeldes von 1000 Fr., alles zuzüglich Zins zu ò O/O vom
Tage der Klage an; ferner Aufhebung der Unter Ziffer HI des Dispositivs
fixierten zeitlichen Beschränkung für den Vorbehalt der Rektifikation
des Urteils im Falle späterer Verschlimmerung des Zustandes des Klägers
und Streichung einer zeitlichen Beschränkung, eventuell Verlängerung
der betreffenden Frist. Ausserdem werden die sämmtlichen Beweisanträge
über die nicht erhobenen Beweise aufrecht erhalten und zwar speziell
dieunter IV, Ziff. 11 der Klage beantragte amtliche Erkundigung beim
Regierungsrate von Baselstadt betreffend die Vorschriften über die
Marirnalgeschwindigkeiten der beklagten Bahn; ferner Erpertise über die
Geschwindigkeitsstreifen der Beklagten eine Zeit lang vor und nach dem
Unfall (sub IV, 15 der Klage beantragt); endlich Einvernahme von Jnspektor
Frese in Riehen als Zeuge und Erpertise über die Erwerbsverhältnisse
bildungsfähiger und ganz ausgebildeter Taubstummer (vgl. Klage sub V],
B)., Die Beklagte ersucht um gänzliche Abweisung der Klage, event. um
Reduktion der dem Kläger zugesprocheneu Entschädigung

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der Unfall ist seinen äussern Ursachen nach darauf zurück-

zuführen, dass der Kläger in einem Zeitpunkte auf dem auf dev
-HI. Hafipflicht der Eisenbahnen bei Tödtungen und Verletzungen. N° 8, 45

Binningerstrasse gelegenen Geleise der Beklagten sich befand, in

welchem gerade ein Zug der letztern mit einer bestimmten Ge-

schwindigkeit heranfuhr und so die unglückliche Kollision bewirkte.
Von der rechtlichen Würdigung dieser Ursachen nach ihrer Zu-

rechnung zur Schuld des Klägers, der Beklagten oder dritter

Personen hängt in erster Linie das Schicksal der Klage qb, Sobald
nämlich in einer oder in mehreren dieser Richtungen ein Verschulden als
ursächlich für den Unfall angesehen werden muss, so braucht die Einrede
der höhern Gewalt, die vorab von der Beklagten erhoben worden ist, nicht
näher geprüft zu werden. In der That kann dann, wenn aus Seite des Klägers
oder der Beklagten ein zurechenbares Verschulden vorliegt, zum vornherein
davon keine Rede sein, dass der Unfall durch höhere Gewalt verursacht
worden sei. Wenn aber ein Verschulden dritter ursächlich mit dem Unfall
in Zusammenhang steht, so braucht ebenfalls nicht untersucht zu werden,
ob dieses sich der Bahn gegenüber als höhere Gewalt qualifiziere, da
Eüber die Haftung in diesen Fällen besondere Regeln aufgestellt sind. Es
sind somit zunächst die

verschiedenen von den Parteien ausgeworfenen Verschuldungsfragen

zu untersuchen, und zwar wird vorab zu prüfen sein, ob die Beklagte ein
Verschulden treffe, da nur dann, wenn dies zu verneinen ist, die Einrede
des Selbstverschuldeus und des Verschuldens dritter eine vollständige
Befreiung zur Folge haben würde, während andernfalls das Verschulden des
Klägers bloss zu einer Reduktion der Haftung führen, dasjenige dritter
im Verhältnis des Klägers zu der Beklagten überhaupt keinen Einfluss
daraus ausüben würde.

2. Der Kläger wirft der Beklagten vor allem aus vor, dass der Zug mit
einer grössern als der reglementarisch gestatteten Geschwindigkeit
gefahren, wodurch der Unfall herbeigeführt oder doch dessen Folgen
vergrössert worden seien, weil nicht rasch genug habe angehalten
werden können. Nach den Feststellungen der Vorinstanz hatte der
Zug eine Geschwindigkeit von 16,7 Km. in der Stunde, während in den
noch gültigen Konzessivnsbestimmungen der beklagten Gesellschaft eine
Maximalgeschwindigkeit von 12 Km. vorgesehen ist, die allerdings seit
längerer Zeit ohne Einspruch der eigenen und der Aufsichtsorgane, wie
es scheint, hauptsächlich

46 Civilrechtspflege.

im Hinblick auf die den Basler Strassenbahnen gestattete
Maximalgeschwindigkeit von 15 Km. überschritten wurde. Abgesehen

nun aber davon, ob diese vermehrte Geschwindigkeit der Bahn · zum
Verschulden angerechnet werden könne, so fehlt jedenfalls zwischen
derselben unddem Unfall der erforderliche ursächliche Zusammenhang
Wie nämlich die kantonalen Gerichte feststellen, kann die Lokomotive
bei einer Geschwindigkeit von 16,7 Km. ebenso rasch anhalten, wie bei
normalem Jahren, und hätte sie jedenfalls auch bei reglementsmässiger
Geschwindigkeit nicht so rasch angehalten werden können, um den Kläger
nicht mehr zu treffen und zu verletzen. Daraus folgt, dass der Unfall
sich auch ereignet hätte, wenn die regleinentsmässige Geschwindigkeit
beobachtet worden wäre und dass deshalb die Überschreitung des
reglementsmässigen Maximums nicht als Ursache des Unfalls im
rechtlichen Sinne betrachtet werden farm. Ebensowenig hat nach den
Feststellungen der Vorinstanzen die zu grosse Fahrgeschwindigkeit auf
die Schwere der Verletzungen des Klägers einen wesentlichen Einfluss
ausgeübt. Nicht nur konnte der Zug trotz der erhöhten Geschwindigkeit
in der gleichen Zeit zum Stehen gebracht werden, wie wenn dem Regiement
gemäss gefahren worden ware, sondern es ist derselbe thatsächlich auch
nach dem Zusammensioss so rasch als möglich angehalten worden, wie die
kantonalen Gerichte ausdrücklich unter Würdigung der Aussagen der Zeugen
und des Klägers selbst über die Stelle, wo er erfasst und wo er unter
dem Zuge hervorgezogen wurde, erklären. Auch hierin trifft also die
Vetlagte keine Schuld. Dass ferner die Schutzvorrichtung der Lokomotive
so mangelhaft konstruiert gewesen sei, dass sie die Unfallsfolgen nur
vergrössert hätte, ist nach den Ausführungen der Vorinstanzen, die sich
auf das Gutachten eines Sachverständigen stützen, thatsächlich unrichtig
Dennoch muss dem Bahnpersonal, in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen,
eine Schuld an dem Unfail beigemessen werden: Bahnen, die zu ihrem an
sich gefahrvollen Betrieb die öffentliche Strasse benutzen, müssen beim
Fahren eine entsprechend grössere Vorsicht auswenden, als diejenigen,
deren Fahrbahn aus eigenem, abgeschränktem Gebiet liegt. Sie müssen damit
rechnen, dass das Geleise von Jedermann, der die öffentliche Strasse
benutzen darf, betreten werden kann und dass somit bestän-lll. Haftpflicht
der Eisenbahnen bei Tödtungen und Verletzungen. N° 8. 4?

big eine, je nach den Ortsund Zeitumständen und den Verkehrsoerhältnissen
grössere oder geringere Gefahr einer Kollision- besteht. Und dabei
dürfen sie nicht ausser Acht lassen, dass nicht allen Personen, die das
Geleise zu betreten befugt sind, in gleichem Masse das Bewusstsein der
Gefahr, die hiermit verbunden sein farm, innewohnt, dass auch Kinder
und Leute mit beschränkter Einsicht sich auf der Strasse aufhalten
und mit der Bahn in Berührung kommen können und dass selbst der mit
solchen Verkehrsmitteln und ihren Gefahren vertraute allmälig durch die
Gewöhnung dagegen abgestumpft wird, oder auch nur im Augenblicke, weil
seine Gedanken und seine Aufmerksamkeit sonst in Anspruch genommen sind,
nicht darauf achtet, ob das Geleise, das er betritt, frei sei. Diese
erhöhte Gefahr nun hat gewiss nicht allein für das Publikum eine erhöhte
Diligenzpslicht zur Folge, sondern sie ist in der Hauptsache durch
vermehrte Vorsicht und gegebenen Falls, wenn diese nicht beobachtet wird,
oder zur Verhütung von Unsällen nicht hinreicht, durch die Haftpflicht der
Bahn auszugleichen Dem entspricht die Anwendung besonderer Warnungssignale
und die Aufstellung spezieller Dienstvorschriften, wie derjenigen über die
Maximalgeschwindigkeit und der andern in § 22 der Konzessionsbedingungen
für die Virsigthalbahn enthaltenen, dass bei drohender Gefahr für den Zug
oder die Passanten aus der Strasse (z. B. beim Scheuwerden von Pferden)
die Fahrgeschwindigkeit zu ermässigen oder, wenn nötig, der Zug anzuhalten
sei. Überhaupt folgt aus der Art des Betriebes, dass das die Lokomotive
bedienende Personal aus alle Vorkommnisse auf der Strasse Obacht geben
und namentlich darauf achten mug, ob das Geleise nach vorne frei, oder ob
die Gefahr eines Zusammenstosses vorhanden sei. Das Personal muss stets
auf der Hut und bereit sein, die nötigen Warnungssignale zu geben, und je
nach den Umständen auch mit andern Mitteln eine Kollision zu Vermeiden
Jin vorliegenden Falle behauptet der Kläger, dass ersich schon längere
Zeit vor dem Herannahen des Zuges ans dem Geleise befunden und dem in den
Rillen fliessenden Wasser zugesehen dade, während nach der Darstellung
der Beklagten der Knabe unmittelbar vor dem Zuge vom Trottoir her das
Geleise noch Überschreiten wollte. Die erstereAnnahme scheint von den

48 . Civilrechtspflege.

Vorinstanzen abgelehnt zu werden, indem sie es als unerwiesen hinstellen,
dass die Bahnangestellten den Kläger schon von weitem auf dem Geleise
stehen oder gehen gesehen hätten. Aber auch die andere, nur von den
Bahnbedientesten vertretene Version ist nach dem vorinstanzlichen Urteil
nicht als erwiesen zu betrachten. Danach ist anzunehmen, es habe der
Kläger doch einige Zeit vor dem Herannahen des Zuges das Geleise betreten
gehabt. Das Bahnpersonal muss also doch schon eine gewisse Zeit vor
dem Zusammenstoss die gefährliche Lage des Knaben erkannt haben, und es
sind denn auch schon auf gewisse Entfernung Warnungssignale abgegeben
worden. Damit durfte sich aber im vorliegenden Falle das Personal
deshalb nicht begnügen, weil es sah, dass es sich um ein Kind handle,
das leichter als Erwachsene die Signale überhören konnte, und weil auch
sofort erkannt werden konnte und musste, dass die Signale nicht beobachtet
wurden. Es hätte deshalb sogleich die Fahrgeschwindigkeit herabgesetzt
und dafür Vorsorge getroffen werden sollen, dass der Zug möglichst rasch
angehalten werden konnte. Statt dessen versuchte man noch im Augenblick,
als der Zug sich in nächster Nähe des Knaben befand, lediglich durch
Signale und Zurufe eine Kollision zu vermeiden. Unter solchen Umständen
aber muss gesagt werden, dass die Bahnangesiellten nicht alle Sorgsamkeit
aufwendeten, die unter den Verhältnissen, wie sie damals vorlagen, geboten
war und dass sie somit ein durch die Beklagte zu vertretendes Verschulden
am Unfall trifft. Immerhin ist dieses Verschulden kein grobes. Solche
Nachlässigkeiten kommen bei jedem Betriebe vor und weisen nicht auf eine
ganz besondere Sorglosigteit hin. In gleicher Weise, wie hier verfahren
wurde, wird Unter ähnlichen Umständen auch von andern Bahnbediensteteu
verfahren, und obwohl dadurch die Schuld nicht ausgeschlossen wird,
so kann doch nicht gesagt werden, dass das von jeder, auch der weniger
sorgsamen Verwaltung aufgewendete Mass von Diligenz nicht beobachtet
worden sei.

3. Anderseits ist der Kläger von einer Mitschuld am Unfall nicht
freizusprechen. Er ist nach den nicht bestrittenen Anbringen in der
Klage intelligent und anstellig und war sich offenbar wohl bewusst,
dass er sich beim Betreten des Geleises in eine Gefahr begebe, hat er
doch selbst angegeben, dass er sich, bevor er dasm. Haftpflicht der
Eisenbahnen bei Tödtungen und Verletzungen. N° S. 49

Geleise betreten, umgesehen habe, ob etwa ein Bahnzug heranfemme. Er
kannte gewiss auch seinen Zustand und hätte deshalb um so vorsichtiger
sein sollen. Es kann daher nicht gesagt werden, dass es ihm an der zur
Annahme eines Verschuldens erforderlichen Einsicht gefehlt habe, und er
durfte deshalb, ohne sich dem Vorwurf fahrlässigen Handelns auszusetzen,
nicht auf dem Geleise verweilen. Dadurch wird nun freilich die Haftpflicht
der Bahn nicht ausgeschlossen, sondern, da auf ihrer Seite ebenfalls
sein Verschulden vorliegt, bloss ermässigt!

4. Da die Bahn ein Verschulden trifft, ist es unerheblich, ob auch
die Eheleute Leppert durch mangelnde Beaufsichtigung des Knaben in
schuldhafter Weise den Unsall mitverursacht haben. Denn durch Vergehen
und Versehen dritter Personen wird die Bahn nach positivrechtlicher
Anordnung von ihrer Haftpflicht nur befreit, wenn sie nicht selbst den
Unfall mit oerschuldet hat. (Art. 2 des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes;
vgl. Amii. Samml. der blindesgerichtl. Entsch, Bd. XIV, S. 455 f.). Es
ist daher auf die Frage des Verschuldens der Eheleute Leppert nicht
näher einzutreten.

5. Was die Form der Entschädigung betrifft, so hat sich der Vertreter
des Klägers heute der Zuerkennung einer Rente nicht mehr ernsthaft
widersetzt. Diese Art der Ausgleichung der Unfallsfolgen erscheint auch
im vorliegenden Falle als den Verhältnissen angemessen Es ist für den
Knaben, der zur Leitung eines Geschäfts niemals befähigt sein wird,
gewiss vorteilhafter, wenn er zeitlebens auf ein sicheres, jährliches
Einkommen rechnen kann, als wenn ihm jetzt ein Kapitalbetrag ausgeworfen
würde, den er doch nicht nutzbringend zu verwenden im Stande wäre. Auch
die künftigen Heilungskosten werden richtiger in der Form jährlich zu
Tleistender Quoten ausgewiesen.

6. Bezüglich der Höhe der Entschädigung besteht, abgesehen von der
Frage des Schmerzengeldes, die mit der Verneinung der Frage des groben
Verschuldens zu Ungunsten des Klägers beantwortet ist, nur Streit über die
Forderung von 20,000 Fr. bezw. einer Rente von 1200 Fr. wegen dauernder
Verminderung der -C·riverbsfähigkeit. Die Beklagte bestreitet den Anspruch
grundsätzAid), weil der Klägser zur Zeit des Unfalls noch nicht erwachs-

xxw, °2. 4898 la

50 _ Civilrechtspflege.

fähig gewesen sei. Dieser Einwand ist jedoch mit den Vorinstanzen zu
verwerer. Nicht das ist der ersetzbare Schaden, was der Verletzte in
Folge der Henimung in seiner Erwerbsthätigkeit einbüsst, sondern das,
was ihm in Folge der Verminderung oder derAushebung der Erwerbsfähigkeit
entgeht. Es ist nicht erforderLich, dass sich diese bereits in einem
bestimmten Erwerbe äussert; wenn nur die persönlichen und sozialen
Bedingungen zur Erlangung einer erwerbenden Stellung vorhanden sind
und der Gesamtheit der Verhältnisse nach bei normalem Verlause der
Dingeeine Ausübung der Erwerbsfähigkeit mit aller Wahrscheinlichkeit
vorauszusehen ist. Dies trifft aber hier zu. Der Kläger ist abgesehen
von seiner Tanbstummheit körperlich und geistig normal, er wird sogar
als besonders intelligent und anstellig bezeichnen Er hatte Gelegenheit,
bei seinem Stiefvater das Schusterhandwerk zu erlernen und hätte sich
den damit verbundenen Erwerb verschaffen können. Die Ersatzpflicht ist
deshalb grundsätzlich auch für diesen Posten begründet. Beim Ausmass der
Entschädigung muss davon ausgegangen werden, dass die Erwerbsfähigkeit
des Klägers durch den Unsall um SO n Vermindert worden sei. Es entspricht
dies dem ärztlichen Gutachten, auf das auch die Vorinstanzen abgesiellt
haben. Einen Ausfall nehmen diese erst an vom 16. Altersjahre an, weil der
Knabe bis dahin noch die Taubstummenanstalt zu besuchen habe; während der
Lehrzeit sodann hätte er, wird weiter ausgeführt, etwa seinen Unterhalt,
d. h. 365 Fr. im Jahre, verdienen können. Diesen Ausführungen ist ohne
anders beizustimmen. Für die spätere Zeit nehmen die Vorinstanzen an,
dass der Kläger infolge seines Desekts aus dein Arbeitsmarkt bedeutend
geringer gewertet worden ware, da er in der Wahl seines Berufs Überaus
beschränkt sei und sein Zustand viele Rücksichten von Seiten derjenigen
verlange, mit denen er zu verkehren habe. Das ist gewiss richtig,
aber umgekehrt wird Taubsiummen gegenüber gerade wegen ihres Fehlers
vielfach besondere Nachsicht geübt, die dazu beiträgt, ihreungünstige
Stellung im Wettbewerb um die Arbeit einigermassen auszugleichen Im
konkreten Falle kommt dazu, dass beim Kläger, mochte er auch in der Wahl
des Berufs beschränkt sein, alle Voraussetzungen zur Erlangung einer
Erwerbsstellung vorhandenIll. Haftpflicht der Eisenbahnen bei Tödtungen
und Verletzungen. N° 8. 51

waren, in der er annähernd dasselbe leisten und verdienen konnte wie ein
vollsinniger. Es dürfte deshalb mit 800 Fr. der spätereErwerbsaussall
des Klägers eher zu niedrig gewettet sein. Allein um ungefähr den Betrag,
um welchen hier die Entschädigung zu erhöhen wäre, müsste sie andern Orts
deshalb ermässigt werden weil den Kläger, was die Vorinstanzen verneint
haben, mit ein Verschulden an dem Unfall trifft. Es ist deshalb auch in
diesem Punkte der Ansatz der Vorinstanz zu belassen.

7. Was endlich den Vorbehalt der Nachklage betrifft, so ist die Ausnahme
desselben in das Urteil gesetzlich begründet, da der medizinische
Sachverständige erklärte, die Zeit sei noch zu kurz um die Möglichkeit
einer Verschlimmerung auszuschliessen, undss man werde wohl erst
nach Verfluss mehrerer Monate bis Jahre zu einem abschliessenden
Urteil darüber gelangen können. Wenn angesichts dieser Ausserung des
Sachverständigen die Vorinstanzen die Möglichkeit einer Nachklage auf
ein Jahr beschränkten, so ist damit einerseits der noch vorhandenen
Unsicherheit in der abschliessenden Beurteilung der Unsallsfolgen genägend
Rechnung getragen, anderseits aber auch darauf Rücksicht genommen, dass
es im Interesse beider Parteien liegt, die Schadensliquidation möglichst
bald zu einem endlichen Abschluss zu bringen.

8. Aus dem Gesagten folgt-, dass eine Ergänzung des Beweises im Sinne
der klägerischen Anträge nicht nötig, und dass das Urteil der Vorinstanz
in allen Teilen zu bestätigen ist.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Die Berufungen sowohl des Klägers als diejenige der Beklagten werden
verworfen und demgemäss das angesochtene Urteil in allen Teilen bestätigt
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 24 II 41
Datum : 24. März 1898
Publiziert : 31. Dezember 1898
Quelle : Bundesgericht
Status : 24 II 41
Sachgebiet : BGE - Zivilrecht
Gegenstand : 40 Civilrechtspflege. dings geringeres Gefälle aufwies, eine gewisse Gefahr für


Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
beklagter • vorinstanz • weiler • höhere gewalt • bundesgericht • frage • treffen • mass • stelle • richtigkeit • benutzung • strassenbahn • erwachsener • gesundheitszustand • tag • zins • zeuge • schaden • trottoir • mutter
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