Urteilskopf

148 IV 145

15. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern und B.B. (Beschwerde in Strafsachen) 6B_780/2021 vom 16. Dezember 2021

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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 145

BGE 148 IV 145 S. 145

A. Das Obergericht des Kantons Bern sprach A. im Berufungsverfahren gegen ein Urteil des Regionalgerichts Emmental-Oberaargau vom 8. Juli 2020 mit Urteil vom 30. April 2021 zweitinstanzlich der versuchten Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamten zum Nachteil von D. sowie der versuchten Nötigung zum Nachteil von B.B. schuldig und verurteilte ihn zu einer unbedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 80.-. Weiter auferlegte es ihm die Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens.
BGE 148 IV 145 S. 146

B. A. verlangt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und er sei von Schuld und Strafe freizusprechen, eventuell sei das Strafverfahren gegen ihn einzustellen. Im Übrigen sei die Angelegenheit "zur Neuverlegung der Kosten- und Entschädigungsfolgen für das gesamte kantonale Verfahren" an das Obergericht zurückzuweisen. Eventualiter sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen des Bundesgerichts zu neuer Beurteilung an das Obergericht zurückzuweisen.
Mit Präsidialverfügung vom 4. August 2021 wurde das Gesuch von A. um aufschiebende Wirkung abgewiesen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. (...)

1.3 Neben den in Art. 147 StPO statuierten allgemeinen Teilnahmerechten bei Beweiserhebungen sieht Art. 159 Abs. 1 StPO in Bezug auf die beschuldigte Person vor, diese habe bei polizeilichen Einvernahmen das Recht, dass ihre Verteidigung anwesend sein und Fragen stellen kann. Auch daraus kann der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten ableiten. In BGE 143 IV 397 E. 3.3.1 hat das Bundesgericht ausgeführt, gemäss Art. 159 Abs. 1 StPO komme der beschuldigten Person das Recht zu, "dass ihre Verteidigung, nicht aber sie selbst, bei Beweiserhebungen durch die Polizei, etwa bei polizeilichen Einvernahmen von Auskunftspersonen, anwesend sein und Fragen stellen kann". Seither hat es diese Formulierung vereinzelt wiederholt (vgl. Urteile 6B_456/2020 vom 9. Februar 2021 E. 4.2; 6B_441/2020 vom 9. Februar 2021 E. 6.2). Das dadurch zum Ausdruck gebrachte Verständnis von Art. 159 Abs. 1 StPO, bei sämtlichen polizeilichen Einvernahmen im Ermittlungsverfahren sei die Verteidigung teilnahmeberechtigt, wird in der Literatur nicht geteilt (vgl. etwa DONATSCH/CAVEGN, Der Anspruch auf einen Anwalt zu Beginn der Strafuntersuchung, forumpoenale 2/2009 S. 108 f.; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 10 zu Art. 159 StPO; RIKLIN, StPO Kommentar, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 159 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 1 und 3 zu Art. 159 StPO; kritisch zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung sodann ausdrücklich GODENZI, in: Kommentar zur Schweizerischen

BGE 148 IV 145 S. 147

Strafprozessordnung StPO, Donatsch und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2020, N. 12 zu Art. 159 StPO mit Hinweisen). Art. 159 Abs. 1 StPO sagt nicht ausdrücklich, bei welchen polizeilichen Einvernahmen im Ermittlungsverfahren die Verteidigung teilnahmeberechtigt ist. Die betreffende Bestimmung befindet sich im 2. Kapitel des 4. Titels der Strafprozessordnung, das die Überschrift "Einvernahme der beschuldigten Person" trägt und Regeln spezifisch zur Beschuldigteneinvernahme statuiert, nicht aber im vorhergehenden 1. Kapitel, welches allgemeine Regeln zur Erhebung und Verwertbarkeit von Beweisen, zur Einvernahme, zu den Teilnahmerechten bei Beweiserhebungen und zu Schutzmassnahmen beinhaltet. Im Einklang mit dieser Systematik sieht die bundesrätliche Botschaft ausdrücklich vor, dass das Teilnahmerecht der Verteidigung im polizeilichen Ermittlungsverfahren auf Einvernahmen allein der beschuldigten Person beschränkt sein soll und sie an anderen Einvernahmen, wie etwa von Auskunftspersonen oder Mitbeschuldigten, nicht teilnehmen kann (vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1194 Ziff. 2.4.2). Der Wortlaut der Gesetzesbestimmung im bundesrätlichen Entwurf (dort noch Art. 156) lautete insoweit denn auch noch: "Die Verteidigung hat das Recht, bei polizeilichen Einvernahmen der beschuldigten Person anwesend zu sein und dieser Fragen zu stellen." (vgl. Art. 156 Abs. 1 des Entwurfs vom 21. Dezember 2005 für eine Schweizerische Strafprozessordnung, BBl 2006 1435; Hervorhebung hinzugefügt). Die Umformulierung im Rahmen der parlamentarischen Beratung in den heutigen Art. 159 Abs. 1 StPO erfolgte einzig zur Klarstellung, "dass es um ein Recht der beschuldigten Person auf Beizug eines Anwaltes geht und nicht primär um ein Recht der Verteidigung auf Teilnahme"; materielle Änderungen waren hingegen nicht beabsichtigt (vgl. Votum Bundesrat Blocher, AB 2006 S 1017). Vor diesem Hintergrund, d.h. angesichts der systematischen Stellung von Art. 159 Abs. 1 StPO im Gesetzestext und seiner Entstehungsgeschichte, kann an der in BGE 143 IV 397 zum Ausdruck gebrachten Ansicht, die Verteidigung sei im polizeilichen Ermittlungsverfahren auch bei anderen Beweiserhebungen als der Einvernahme der beschuldigten Person teilnahmeberechtigt, nicht festgehalten werden. Die Rechtsprechung ist dahingehend zu präzisieren, dass der Anspruch der beschuldigten Person auf Anwesenheit ihrer Verteidigung nach Art. 159 Abs. 1 StPO ausschliesslich bei der polizeilichen Einvernahme der beschuldigten Person gilt.
BGE 148 IV 145 S. 148

Auch eine Verletzung des Teilnahmerechts im Sinne von Art. 159 Abs. 1 StPO fällt im zu beurteilenden Fall daher ausser Betracht.
Information de décision   •   DEFRITEN
Document : 148 IV 145
Date : 16 décembre 2021
Publié : 25 août 2022
Source : Tribunal fédéral
Statut : 148 IV 145
Domaine : ATF - Droit pénal et procédure penale
Objet : Art. 159 al. 1 CPP; droit du prévenu à ce que son défenseur soit présent et puisse poser des questions lors des auditions
Classification : Précision de la Jurisprudence


Répertoire des lois
CPP: 147  159
Répertoire ATF
143-IV-397 • 148-IV-145
Weitere Urteile ab 2000
6B_441/2020 • 6B_456/2020 • 6B_780/2021
Répertoire de mots-clés
Trié par fréquence ou alphabet
prévenu • emploi • question • tribunal fédéral • code de procédure pénale suisse • recours en matière pénale • tiers appelé à fournir des renseignements • enquête pénale • mesure de protection • procédure pénale • début • conseil fédéral • littérature • état de fait • effet suspensif • condamné • procédure cantonale • langue • peine pécuniaire
FF
2006/1194 • 2006/1435
BO
2006 S 1017