Urteilskopf

147 IV 123

12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell I.Rh. gegen A. (Beschwerde in Strafsachen) 1B_438/2020 vom 27. November 2020

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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 123

BGE 147 IV 123 S. 123

A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell Innerrhoden führt eine Strafuntersuchung gegen A. Sie wirft ihm vor, er habe über mehrere Jahre hinweg jeweils in alkoholisiertem Zustand seine Ehefrau und deren Sohn geschlagen, sie - teilweise mit dem Tod - bedroht und beschimpft. Am 11. Juli 2020 nahm die Polizei A. fest. Am 13. Juli 2020 beantragte die Staatsanwaltschaft dem Zwangsmassnahmengericht am Bezirksgericht Appenzell Innerrhoden, gegenüber A. anstelle von Untersuchungshaft folgende Ersatzmassnahmen anzuordnen: Ein Kontaktverbot zur Ehefrau und ihrem Sohn; das Verbot, sich der
BGE 147 IV 123 S. 124

Ehefrau und dem Sohn mehr als 100 Meter zu nähern; das Verbot des Erwerbs und Besitzes von Waffen; eine Therapie der Alkoholabhängigkeit; eine kontrollierte Alkoholabstinenz. Gleichentags setzte die Staatsanwaltschaft A. auf freien Fuss. Am 17. Juli 2020 ordnete das Zwangsmassnahmengericht das beantragte Kontakt- und Annäherungsverbot sowie das Verbot des Besitzes und Erwerbs von Waffen an, hingegen keine Therapie und kontrollierte Alkoholabstinenz. Dagegen erhob die Staatsanwaltschaft Beschwerde mit dem Antrag, zusätzlich zu den vom Zwangsmassnahmengericht verfügten Ersatzmassnahmen eine Therapie und kontrollierte Alkoholabstinenz anzuordnen. Am 12. August 2020 trat das Kantonsgericht Appenzell Innerrhoden nicht auf die Beschwerde ein. Es verneinte die Beschwerdelegitimation.
B. Die Staatsanwaltschaft führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Entscheid des Kantonsgerichts aufzuheben und zusätzlich zu den verfügten Ersatzmassnahmen eine Therapie und kontrollierte Alkoholabstinenz anzuordnen. Eventualiter sei die Legitimation der Staatsanwaltschaft zur Beschwerde gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts festzustellen und die Sache zur materiellen Beurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen. (...) (Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Verneinung ihrer Beschwerdelegitimation durch die Vorinstanz verletze Bundesrecht.
2.2 Gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. c
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 393 Zulässigkeit und Beschwerdegründe - 1 Die Beschwerde ist zulässig gegen:
1    Die Beschwerde ist zulässig gegen:
a  die Verfügungen und die Verfahrenshandlungen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Übertretungsstrafbehörden;
b  die Verfügungen und Beschlüsse sowie die Verfahrenshandlungen der erstinstanzlichen Gerichte; ausgenommen sind verfahrensleitende Entscheide;
c  die Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts, sofern dieses Gesetz sie nicht als endgültig bezeichnet.
2    Mit der Beschwerde können gerügt werden:
a  Rechtsverletzungen, einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens, Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung;
b  die unvollständige oder unrichtige Feststellung des Sachverhalts;
c  Unangemessenheit.
StPO ist die Beschwerde zulässig gegen die Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen (ebenso Art. 20 Abs. 1 lit. c
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 20 Beschwerdeinstanz - 1 Die Beschwerdeinstanz beurteilt Beschwerden gegen Verfahrenshandlungen und gegen nicht der Berufung unterliegende Entscheide:
1    Die Beschwerdeinstanz beurteilt Beschwerden gegen Verfahrenshandlungen und gegen nicht der Berufung unterliegende Entscheide:
a  der erstinstanzlichen Gerichte;
b  der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Übertretungsstrafbehörden;
c  des Zwangsmassnahmengerichts in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen.
2    Bund und Kantone können die Befugnisse der Beschwerdeinstanz dem Berufungsgericht übertragen.
StPO). Nach Art. 222
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 222 Rechtsmittel - Einzig die verhaftete Person kann Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Vorbehalten bleibt Artikel 233.
StPO kann die verhaftete Person Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten (...). Nach der Rechtsprechung ist ebenso die Staatsanwaltschaft zur Beschwerde gegen Entscheide befugt, mit denen die Untersuchungs- oder Sicherheitshaft nicht angeordnet, nicht verlängert oder aufgehoben wird (BGE 137 IV 22). Daran hat das Bundesgericht trotz Kritik mehrmals festgehalten (BGE 137 IV 87 E. 2 f. S. 89 ff.;
BGE 147 IV 123 S. 125

BGE 137 IV 230 E. 1 S. 232; BGE 137 IV 237 E. 1.2 S. 240; BGE 138 IV 92 E. 3.2 S. 96; BGE 138 IV 148 E. 3.1 S. 150; BGE 139 IV 314 E. 2.2 S. 316; Urteil 1B_486/2018 vom 22. November 2018 E. 2.1, in: Pra 2019 Nr. 36 S. 402). Darauf zurückzukommen besteht umso weniger Anlass, als der Bundesrat mit Botschaft vom 28. August 2019 zur Änderung der Strafprozessordnung vorschlägt, die Rechtsprechung in das Gesetz zu überführen. Der bundesrätliche Entwurf sieht in Art. 222
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 222 Rechtsmittel - Einzig die verhaftete Person kann Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Vorbehalten bleibt Artikel 233.
StPO einen neuen Absatz 2 vor. Danach kann die Staatsanwaltschaft Entscheide über die Nichtanordnung, die Nichtverlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten (BBl 2019 6744 f. und 6749). Dem Entscheid des Gesetzgebers über den Entwurf des Bundesrats ist hier nicht vorzugreifen.
2.3 Die Vorinstanz lehnt die Anwendung der dargelegten Rechtsprechung bei Ersatzmassnahmen ab; dies im Gegensatz zur Rechtsprechung des Kantons St. Gallen (Entscheid der Anklagekammer vom 21. Dezember 2017 [AK.2017.192] E. II.1). Das Schrifttum äussert sich, soweit ersichtlich, kaum dazu (vgl. aber CHRISTIAN COQUOZ, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 15d zu Art. 237
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 237 Allgemeine Bestimmungen - 1 Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen.
1    Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen.
2    Ersatzmassnahmen sind namentlich:
a  die Sicherheitsleistung;
b  die Ausweis- und Schriftensperre;
c  die Auflage, sich nur oder sich nicht an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Haus aufzuhalten;
d  die Auflage, sich regelmässig bei einer Amtsstelle zu melden;
e  die Auflage, einer geregelten Arbeit nachzugehen;
f  die Auflage, sich einer ärztlichen Behandlung oder einer Kontrolle zu unterziehen;
g  das Verbot, mit bestimmten Personen Kontakte zu pflegen.
3    Das Gericht kann zur Überwachung solcher Ersatzmassnahmen den Einsatz technischer Geräte und deren feste Verbindung mit der zu überwachenden Person anordnen.
4    Anordnung und Anfechtung von Ersatzmassnahmen richten sich sinngemäss nach den Vorschriften über die Untersuchungs- und die Sicherheitshaft.
5    Das Gericht kann die Ersatzmassnahmen jederzeit widerrufen, andere Ersatzmassnahmen oder die Untersuchungs- oder die Sicherheitshaft anordnen, wenn neue Umstände dies erfordern oder die beschuldigte Person die ihr gemachten Auflagen nicht erfüllt.
StPO).
2.4 Der Vorinstanz kann nicht gefolgt werden.
Gemäss Art. 237 Abs. 4
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 237 Allgemeine Bestimmungen - 1 Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen.
1    Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen.
2    Ersatzmassnahmen sind namentlich:
a  die Sicherheitsleistung;
b  die Ausweis- und Schriftensperre;
c  die Auflage, sich nur oder sich nicht an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Haus aufzuhalten;
d  die Auflage, sich regelmässig bei einer Amtsstelle zu melden;
e  die Auflage, einer geregelten Arbeit nachzugehen;
f  die Auflage, sich einer ärztlichen Behandlung oder einer Kontrolle zu unterziehen;
g  das Verbot, mit bestimmten Personen Kontakte zu pflegen.
3    Das Gericht kann zur Überwachung solcher Ersatzmassnahmen den Einsatz technischer Geräte und deren feste Verbindung mit der zu überwachenden Person anordnen.
4    Anordnung und Anfechtung von Ersatzmassnahmen richten sich sinngemäss nach den Vorschriften über die Untersuchungs- und die Sicherheitshaft.
5    Das Gericht kann die Ersatzmassnahmen jederzeit widerrufen, andere Ersatzmassnahmen oder die Untersuchungs- oder die Sicherheitshaft anordnen, wenn neue Umstände dies erfordern oder die beschuldigte Person die ihr gemachten Auflagen nicht erfüllt.
StPO richten sich Anordnung und Anfechtung von Ersatzmassnahmen sinngemäss nach den Vorschriften über die Untersuchungs- und die Sicherheitshaft. Dazu gehört Art. 222
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 222 Rechtsmittel - Einzig die verhaftete Person kann Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Vorbehalten bleibt Artikel 233.
StPO. Wenn danach aufgrund der Rechtsprechung die Staatsanwaltschaft zur Beschwerde gegen die Nichtanordnung, Nichtverlängerung oder Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft berechtigt ist, muss gemäss Art. 237 Abs. 4
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 237 Allgemeine Bestimmungen - 1 Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen.
1    Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen.
2    Ersatzmassnahmen sind namentlich:
a  die Sicherheitsleistung;
b  die Ausweis- und Schriftensperre;
c  die Auflage, sich nur oder sich nicht an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Haus aufzuhalten;
d  die Auflage, sich regelmässig bei einer Amtsstelle zu melden;
e  die Auflage, einer geregelten Arbeit nachzugehen;
f  die Auflage, sich einer ärztlichen Behandlung oder einer Kontrolle zu unterziehen;
g  das Verbot, mit bestimmten Personen Kontakte zu pflegen.
3    Das Gericht kann zur Überwachung solcher Ersatzmassnahmen den Einsatz technischer Geräte und deren feste Verbindung mit der zu überwachenden Person anordnen.
4    Anordnung und Anfechtung von Ersatzmassnahmen richten sich sinngemäss nach den Vorschriften über die Untersuchungs- und die Sicherheitshaft.
5    Das Gericht kann die Ersatzmassnahmen jederzeit widerrufen, andere Ersatzmassnahmen oder die Untersuchungs- oder die Sicherheitshaft anordnen, wenn neue Umstände dies erfordern oder die beschuldigte Person die ihr gemachten Auflagen nicht erfüllt.
StPO bei Ersatzmassnahmen dasselbe gelten. Dafür sprechen auch die Gesichtspunkte, die das Bundesgericht dazu veranlasst haben, die Befugnis der Staatsanwaltschaft zur StPO-Beschwerde bei Nichtanordnung, Nichtverlängerung oder Aufhebung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft zu anerkennen. Das Bundesgericht stützt sich insoweit insbesondere auf den Grundsatz der Einheit des Verfahrens gemäss Art. 111
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 111 Einheit des Verfahrens - 1 Wer zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt ist, muss sich am Verfahren vor allen kantonalen Vorinstanzen als Partei beteiligen können.
1    Wer zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt ist, muss sich am Verfahren vor allen kantonalen Vorinstanzen als Partei beteiligen können.
2    Bundesbehörden, die zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt sind, können die Rechtsmittel des kantonalen Rechts ergreifen und sich vor jeder kantonalen Instanz am Verfahren beteiligen, wenn sie dies beantragen.
3    Die unmittelbare Vorinstanz des Bundesgerichts muss mindestens die Rügen nach den Artikeln 95-98 prüfen können. ...99
BGG (BGE 137 IV 22 E. 1.3 S. 23 f.). Danach muss, wer zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt ist, sich am Verfahren vor allen kantonalen Vorinstanzen als Partei beteiligen können (Abs. 1). Die Staatsanwaltschaft ist bei Nichtanordnung, Nichtverlängerung und Aufhebung von
BGE 147 IV 123 S. 126

Ersatzmassnahmen zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 81 Beschwerderecht - 1 Zur Beschwerde in Strafsachen ist berechtigt, wer:
1    Zur Beschwerde in Strafsachen ist berechtigt, wer:
a  vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat; und
b  ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat, insbesondere:
b1  die beschuldigte Person,
b2  ihr gesetzlicher Vertreter oder ihre gesetzliche Vertreterin,
b3  die Staatsanwaltschaft, ausser bei Entscheiden über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft,
b4  ...
b5  die Privatklägerschaft, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann,
b6  die Person, die den Strafantrag stellt, soweit es um das Strafantragsrecht als solches geht,
b7  die Staatsanwaltschaft des Bundes und die beteiligte Verwaltung in Verwaltungsstrafsachen nach dem Bundesgesetz vom 22. März 197455 über das Verwaltungsstrafrecht.
2    Eine Bundesbehörde ist zur Beschwerde berechtigt, wenn das Bundesrecht vorsieht, dass ihr der Entscheid mitzuteilen ist.56
3    Gegen Entscheide nach Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe b steht das Beschwerderecht auch der Bundeskanzlei, den Departementen des Bundes oder, soweit das Bundesrecht es vorsieht, den ihnen unterstellten Dienststellen zu, wenn der angefochtene Entscheid die Bundesgesetzgebung in ihrem Aufgabenbereich verletzen kann.
BGG). Damit muss sie auch an die kantonale Beschwerdeinstanz gelangen können. Wollte man der Auffassung der Vorinstanz folgen, führte das zu einer Gabelung des Rechtswegs. Der Beschuldigte könnte in einem Fall wie hier die angeordneten Ersatzmassnahmen bei der kantonalen Beschwerdeinstanz anfechten. Die Staatsanwaltschaft müsste demgegenüber gegen die Nichtanordnung der von ihr beantragten weiteren Ersatzmassnahmen unmittelbar das Bundesgericht anrufen. Damit wären die kantonale Beschwerdeinstanz und das Bundesgericht gleichzeitig mit derselben Angelegenheit befasst, was die Gefahr widersprüchlicher Entscheide mit sich brächte. So könnte die kantonale Beschwerdeinstanz zum Schluss kommen, die angefochtenen Ersatzmassnahmen gingen zu weit, und das Bundesgericht das Gegenteil entscheiden. Zwar bestünde die Möglichkeit der Sistierung des bundesgerichtlichen Verfahrens. Dies komplizierte das Verfahren jedoch unnötig. Es ist nicht sinnvoll, sachlich Zusammenhängendes prozessual zu trennen. Für die Staatsanwaltschaft besteht bei Nichtanordnung, Nichtverlängerung oder Aufhebung von Ersatzmassnahmen überdies die gleiche Interessenlage wie bei Haft. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft bleiben damit die Haftgründe gemäss Art. 221
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 221 Voraussetzungen - 1 Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie:
1    Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie:
a  sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht;
b  Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen; oder
c  durch Verbrechen oder schwere Vergehen die Sicherheit anderer unmittelbar erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat.
1bis    Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind ausnahmsweise zulässig, wenn:
a  die beschuldigte Person dringend verdächtig ist, durch ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen die physische, psychische oder sexuelle Integrität einer Person schwer beeinträchtigt zu haben; und
b  die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, die beschuldigte Person werde ein gleichartiges, schweres Verbrechen verüben.112
2    Haft ist auch zulässig, wenn die ernsthafte und unmittelbare Gefahr besteht, eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahrmachen.113
StPO (Flucht-, Kollusions-, Wiederholungs- und Ausführungsgefahr) bestehen, was die Strafuntersuchung erschweren und die Staatsanwaltschaft an der gleichmässigen Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, für welche sie gemäss Art. 16 Abs. 1
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 16 Staatsanwaltschaft - 1 Die Staatsanwaltschaft ist für die gleichmässige Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs verantwortlich.
1    Die Staatsanwaltschaft ist für die gleichmässige Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs verantwortlich.
2    Sie leitet das Vorverfahren, verfolgt Straftaten im Rahmen der Untersuchung, erhebt gegebenenfalls Anklage und vertritt die Anklage.
StPO verantwortlich ist, hindern kann. Dies spricht ebenso für die Bejahung der Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft auch bei Ersatzmassnahmen. Ersatzmassnahmen können ausserdem derart einschneidend sein, dass sie sich von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft kaum noch unterscheiden. So stellt nach der Rechtsprechung der Hausarrest eine gewisse Form der Haft dar (BGE 141 IV 190 E. 3.3 S. 192 f.). Damit wäre es sachwidrig, insoweit eine Grenze zu ziehen und der Staatsanwaltschaft die Beschwerdelegitimation nur bei Untersuchungs- oder Sicherheitshaft zuzuerkennen. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Beschwerdelegitimation gewährleistet die Gleichbehandlung des Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft. Wenn der Beschuldigte gegen die Anordnung von Haft bei der kantonalen Beschwerdeinstanz Beschwerde
BGE 147 IV 123 S. 127

führen kann, soll dies auch die Staatsanwaltschaft gegen die Nichtanordnung tun können. Es besteht kein Grund dafür, dies bei Ersatzmassnahmen anders zu handhaben. Im Urteil 1B_218/2012 vom 26. Juni 2012 befand das Bundesgericht, die Staatsanwaltschaft könne gegen einen Haftentscheid des Zwangsmassnahmengerichts auch dann Beschwerde an die kantonale Beschwerdeinstanz führen, wenn es nicht um die Haft selber geht, sondern lediglich darum, ob das Zwangsmassnahmengericht der Staatsanwaltschaft einen Verfahrensfehler vorwerfen und ihr Kosten auferlegen durfte (E. 2.2). Damit wäre es ungereimt, der Staatsanwaltschaft die Berechtigung zur Beschwerde gegen die Nichtanordnung von Ersatzmassnahmen abzusprechen. Denn insoweit geht es - was regelmässig von grösserer Tragweite ist - um die Zwangsmassnahme selber und nicht nur um einen verfahrensrechtlichen Nebenpunkt.
2.5 Die Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft gegen einen Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts, der eine von ihr beantragte Ersatzmassnahme ablehnt, ist deshalb zu bejahen. Die Beschwerde wird daher, soweit darauf eingetreten werden kann, gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen. Diese wird, soweit die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, auf die Beschwerde einzutreten haben.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 147 IV 123
Date : 27. November 2020
Published : 05. Juni 2021
Source : Bundesgericht
Status : 147 IV 123
Subject area : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Subject : Art. 222 und 237 Abs. 4 StPO; Nichtanordnung von Ersatzmassnahmen anstelle von Untersuchungshaft; Beschwerdelegitimation


Legislation register
BGG: 81  111
StPO: 16  20  221  222  237  393
BGE-register
137-IV-22 • 137-IV-230 • 137-IV-237 • 137-IV-87 • 138-IV-148 • 138-IV-92 • 139-IV-314 • 141-IV-190 • 147-IV-123
Weitere Urteile ab 2000
1B_218/2012 • 1B_438/2020 • 1B_486/2018
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federal court • legitimation of appeal • lower instance • therapy • appenzell innerrhoden • accused • cantonal legal court • criminal investigation • remand • appeal concerning criminal matters • federal council of switzerland • uniformity of procedure • [noenglish] • decision • swiss code of criminal procedure • extent • directive • guideline • risk of collusion • side issue
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BBl
2019/6744
Pra
108 Nr. 36