BGE-140-V-233
Urteilskopf
140 V 233
32. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern und A. AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 8C_837/2013 vom 8. Mai 2014
Regeste (de):
- Art. 15 Abs. 2
FamZG; Art. 1
FamZG in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1
ATSG; Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Bern vom 11. Juni 2008 über die Familienzulagen (KFamZG).
- Art. 4 Abs. 2 KFamZG ist bundesrechtswidrig (E. 3 und 4).
Regeste (fr):
- Art. 15 al. 2 LAFam; art. 1 LAFam en relation avec l'art. 25 al. 1 LPGA; art. 4 al. 2 de la loi du canton de Berne du 11 juin 2008 sur les allocations familiales (LCAFam).
- L'art. 4 al. 2 LCAFam est contraire au droit fédéral (consid. 3 et 4).
Regesto (it):
- Art. 15 cpv. 2 LAFam; art. 1 LAFam in relazione con l'art. 25 cpv. 1 LPGA; art. 4 cpv. 2 della legge cantonale bernese dell'11 giugno 2008 sugli assegni familiari (LCAFam).
- L'art. 4 cpv. 2 LCAFam è contrario al diritto federale (consid. 3 e 4).
Sachverhalt ab Seite 233
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A. Die A. AG ist der Ausgleichskasse des Kantons Bern (nachfolgend: Ausgleichskasse) im Rahmen der Familienzulagen als Arbeitgeberin angeschlossen. B. war ab 1. Juni 2005 bei der A. AG tätig und bezog für seine beiden Söhne (geboren im Jahr 2007) Familienzulagen. Anlässlich von administrativen Abklärungen wurde festgestellt, dass B., welcher von 3. Januar 2011 bis 1. Januar 2013 krankgeschrieben war, ab 1. Mai 2011 die Familienzulagen zu Unrecht erhalten hatte. Die Ausgleichskasse forderte mit Nachtragsrechnung vom 18. März 2013 bei der A. AG die zu viel bezahlten Familienzulagen von insgesamt Fr. 3'680.- zurück. Dies bestätigte sie mit Verfügung vom 3. April 2013 resp. mit Einspracheentscheid vom 17. Juni 2013.
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B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die von der A. AG dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 4. Oktober 2013 ab.
C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Begründung zurückzuweisen. Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die A. AG verzichtet auf eine Stellungnahme. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Es ist unter den Parteien unbestritten, dass B. im Jahr 2011 zu Unrecht Familienzulagen in der Höhe von Fr. 3'680.- bezogen hat. Streitig ist jedoch, ob die Arbeitgeberin die zu Unrecht bezogenen Familienzulagen gestützt auf Art. 4 Abs. 2 des Berner Gesetzes vom 11. Juni 2008 über die Familienzulagen (KFamZG; BSG 832.71) zurückzubezahlen hat. Nicht erstellt ist weiter, ob die Arbeitgeberin der Ausgleichskasse rechtzeitig mitgeteilt hatte, dass ihr Arbeitnehmer erkrankt war. Die Arbeitgeberin macht geltend, sie habe rechtzeitig eine telefonische Meldung erstattet und es sei ihr versichert worden, die Familienzulagen seien weiterhin auszubezahlen. Die Ausgleichskasse anerkennt dies nicht, verneint es aber auch nicht. Die Vorinstanz hat diesbezüglich Beweislosigkeit angenommen und die Einrede der Arbeitgeberin in Anwendung von Art. 8

3.
3.1 Nach Art. 15 Abs. 2


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als reine Zahlstellen und erwerben keine eigenen Rechte oder Pflichten aus dem Leistungsverhältnis; deshalb sind gegenüber dem Arbeitnehmer und der Arbeitnehmerin nicht sie Schuldner der Familienzulage, sondern die Familienausgleichskasse (KIESER/REICHMUTH, a.a.O., N. 56 zu Art. 1




3.2 Im Rahmen des FamZG findet bezüglich der Verrechnung Art. 20




3.3 Unrechtmässig bezogene Familienzulagen sind zurückzuerstatten (Art. 1


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Lohnansprüchen des Arbeitnehmers verpflichtet werden kann; rückerstattungspflichtig ist vielmehr die leistungsberechtigte Person (vgl. zum Ganzen KIESER/REICHMUTH, a.a.O., N. 57 und 75 zu Art. 1



3.4 Art. 4 Abs. 2 KFamZG lautet:
"Arbeitgeber im Sinne von Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a

4.
4.1 Das BSV macht in seiner Beschwerde geltend, die Arbeitgeber seien keine Durchführungsorgane nach FamZG, sondern reine Zahlstellen, weshalb vorliegend nicht die Arbeitgeberin rückerstattungspflichtig sei; da sich auf Grund des reinen Zahlstellenverhältnisses zwischen Arbeitgeber und der Familienausgleichskasse keine Rechte oder Pflichten aus dem Leistungsverhältnis ableiten liessen, könne ein Arbeitgeber nicht gegen seinen Willen zur Rückerstattung verpflichtet werden. Die kantonale Norm tangiere aber auch die Rechte des Arbeitnehmers in unzulässiger Weise, indem die Rückerstattungsverfügung diesem gegenüber zu erlassen sei, da nur er aus eigenem Recht zur Anfechtung berechtigt sei. Werde hingegen die Rückerstattungsforderung gegenüber dem Arbeitgeber verrechnet und vom Arbeitgeber beim Arbeitnehmer danach vom Lohn abgezogen, könne sich dieser zu keinem Zeitpunkt gegen die Rückerstattung wehren. So könne der Arbeitnehmer weder seine Gutgläubigkeit noch die Einrede der grossen Härte gegenüber dem Arbeitgeber geltend machen. Könne die Familienausgleichskasse ihre Rückerstattungsforderung gegenüber dem Arbeitnehmer nicht durchsetzen und habe der Arbeitgeber infolge einer vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Verletzung seiner Pflichten dies mitverschuldet, sei ein Schadenersatz nach Art. 52

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Arbeitnehmer nicht rückforderbaren Zulagen ausbezahlt und nun noch Fr. 3'680.- an Beiträgen nachzuzahlen habe. Dies führe bei der Kasse zu einem erhöhten Aufwand und bei der Arbeitgeberin zu einem Verlust. Weiter handle es sich angesichts der den Arbeitgebern übertragenen Aufgaben gemäss Art. 17 Abs. 2 lit. f


4.2 Wie das BSV zu Recht vorbringt, ist die Arbeitgeberin kein Durchführungsorgan nach FamZG, sondern handelt als blosse Zahlstelle (vgl. E. 3.1). Auch ist die Arbeitgeberin gegenüber der Ausgleichskasse weder leistungsberechtigt noch kann sie aus eigenem Recht eine Auszahlung der Leistung an sich verlangen, noch erfolgt wegen einer fürsorgerischen Betreuung seitens der Arbeitgeberin gegenüber dem Arbeitnehmer eine Drittauszahlung. Somit ist die Arbeitgeberin nach Bundesrecht (Art. 1


4.3
4.3.1 Der Bundesgesetzgeber hat das Risiko der Uneinbringlichkeit bei Rückerstattungen nach Art. 25


4.3.2 Das BSV bringt weiter zu Recht vor, dass die kantonale Regelung bezüglich der möglichen Einwände gegen die Rechtmässigkeit einer Rückforderung die Rechte und Pflichten der Beteiligten neu ordnet und so der bundesrechtlich vorgesehenen Aufteilung widerspricht. Indem nach Art. 4 Abs. 2 KFamZG der Arbeitgeber
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rückerstattungspflichtig ist, kann sich der Arbeitnehmer gegen die Feststellung des unrechtmässigen Leistungsbezugs nicht wehren. Daran ändert auch der allfällige Umstand nichts, dass ihm die Rückerstattungsforderung ebenfalls zugestellt wird, ist er doch weder Adressat dieser Verfügung noch wird er persönlich damit ins Recht gefasst, so dass für ihn keine Veranlassung besteht, aktiv zu werden. Zudem ist es dem Arbeitgeber verwehrt, seinerseits in der Person des Arbeitnehmers liegende Umstände wie Gutgläubigkeit oder grosse Härte geltend zu machen (vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen der Ausgleichskasse in ihrem Einspracheentscheid vom 17. Juni 2013, wonach bei der Arbeitgeberin keine grosse Härte im Sinne eines Ausgabenüberschusses nach ELG gegeben sei).
4.3.3 Soweit die Ausgleichskasse vorbringt, die Argumentation des BSV führe zu einer Bereicherung der Kasse und zu einem Verlust des Arbeitgebers, unterliegt sie selbst einem Denkfehler: Die Ausgleichskasse hat beim Arbeitnehmer die zu Unrecht bezahlten Familienzulagen zurückzufordern; hingegen besteht seitens der Ausgleichskasse kein Nachforderungsrecht gegenüber der Arbeitgeberin, da diese ihre Beiträge mit der (erst nachträglich als unrechtmässig festgestellten) Ausrichtung der Familienzulagen an B. beglichen hat und insofern auch nicht (unrechtmässig) bereichert ist. Könnte die Ausgleichskasse - immer gemäss den Ausführungen der Beschwerdegegnerin - sowohl die (von ihr selbst gar nie geleisteten) Familienzulagen vom betroffenen Arbeitnehmer wie auch die durch Verrechnung getilgten Beiträge in derselben Höhe beim Arbeitgeber einfordern, wäre sie in der Tat unrechtmässig bereichert.
4.3.4 Ebenfalls unbehelflich ist der Einwand der Ausgleichskasse, B. habe gestützt auf BGE 118 V 214 sich darauf verlassen dürfen, dass seine Arbeitgeberin die notwendigen Meldungen mache. Einerseits beruht der Sachverhalt von BGE 118 V 214 auf einer Drittauszahlung nach Art. 76 Abs. 1



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Art. 1






4.4 Nach dem Gesagten führt Art. 4 Abs. 2 KFamZG in mehrfacher Hinsicht zu einer Vereitelung von Bundesrecht, weshalb die kantonale Norm bundesrechtswidrig und damit infolge der derogatorischen Kraft von Bundesrecht (Art. 49 Abs. 1

5. Es bleibt festzuhalten, dass die Frage, ob die Arbeitgeberin infolge pflichtwidrigen Verschuldens gegenüber der Familienausgleichskasse schadenersatzpflichtig ist, im Verfahren nach Art. 52
