140 IV 82
10. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Beschwerde in Strafsachen) 6B_908/2013 vom 20. März 2014
Regeste (de):
- Art. 3
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 3 Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot - 1 Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen.
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 355 Verfahren bei Einsprache - 1 Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind.
- Die Bestimmungen der StPO sind im Gesamtzusammenhang des Gesetzes auszulegen (E. 2.5).
- Die gesetzliche Fiktion, wonach bei unentschuldigtem Fernbleiben die Einsprache gegen den Strafbefehl als zurückgezogen gilt, gelangt nur zur Anwendung, wenn der Einsprecher tatsächlich Kenntnis von der Vorladung und damit auch von den Säumnisfolgen hat. Vorbehalten bleiben Fälle rechtsmissbräuchlichen Verhaltens (E. 2.7).
Regeste (fr):
- Art. 3 et 355 al. 2 CPP; procédure en cas d'opposition, défaut après une citation, fiction du retrait.
- Les dispositions du CPP doivent être interprétées au regard du contexte général de la loi (consid. 2.5).
- La fiction légale selon laquelle l'opposition est réputée retirée en cas de défaut sans excuse ne s'applique que si l'opposant a effectivement eu connaissance de la citation et des conséquences du défaut. Demeurent réservés les cas d'abus de droit (consid. 2.7).
Regesto (it):
- Art. 3 e 355 cpv. 2 CPP; procedura in caso di opposizione, mancata comparizione dopo la citazione, finzione del ritiro.
- Le disposizioni del CPP devono essere interpretate nel contesto generale della legge (consid. 2.5).
- La finzione legale, secondo cui in caso di assenza ingiustificata l'opposizione al decreto d'accusa è considerata ritirata, trova applicazione solo ove l'opponente sia effettivamente a conoscenza della citazione e quindi anche delle conseguenze della mancata comparizione. L'abuso di diritto è riservato (consid. 2.7).
Sachverhalt ab Seite 82
BGE 140 IV 82 S. 82
A. Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach sprach X. mit Strafbefehl vom 20. Dezember 2012 der groben Verkehrsregelverletzung schuldig und verurteilte sie zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 140.- und einer Busse von Fr. 600.-. X. erhob Einsprache. In der Folge lud die Staatsanwaltschaft sie am 28. Januar 2013 zu einer Einvernahme auf den 19. März 2013 vor. Die eingeschriebene Postsendung mit der Vorladung wurde am 29. Januar 2013 zur Abholung gemeldet und am 6. Februar 2013 mit dem Vermerk "nicht abgeholt" retourniert. Nachdem X. nicht zur Einvernahme erschienen war, stellte die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 20. März 2013 fest, dass die Einsprache als
BGE 140 IV 82 S. 83
zurückgezogen gilt und der Strafbefehl vom 20. Dezember 2012 in Rechtskraft erwachsen ist.
B. Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 5. August 2013 eine von X. gegen die Verfügung vom 20. März 2013 gerichtete Beschwerde ab.
C. X. erhebt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das obergerichtliche Urteil und die Verfügung der Staatsanwaltschaft aufzuheben und diese anzuweisen, das Strafverfahren weiterzuführen. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht verzichtet auf eine Stellungnahme. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit darauf einzutreten ist.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt, das von der Vorinstanz angenommene Desinteresse am Fortgang des Einspracheverfahrens beruhe auf einer doppelten Fiktion. Zuerst werde die Kenntnis der Vorladung fingiert, um anschliessend aus dem durch Unkenntnis der Vorladung bedingten Fernbleiben auf den Rückzug der Einsprache zu schliessen. Die Annahme eines Einspracherückzugs lasse sich nur rechtfertigen, wenn die beschuldigte Person bewusst der Einvernahme fernblieb, und dies setze voraus, dass sie tatsächlich Kenntnis von der Vorladung hatte.
2.2 Wie die Vorinstanz feststellt, wurde die Vorladung ordnungsgemäss mit eingeschriebener Postsendung zugestellt, am 29. Januar 2013 zur Abholung gemeldet und am 6. Februar 2013 mit dem Vermerk "nicht abgeholt" an die Staatsanwaltschaft retourniert. Die Beschwerdeführerin weilte vom 28. Januar bis 8. Februar 2013 in Norddeutschland in den Ferien. Die Vorinstanz begründet, die Beschwerdeführerin habe nach der Einsprache gegen den Strafbefehl mit behördlichen Zustellungen rechnen müssen. Gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 355 Verfahren bei Einsprache - 1 Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind. |
BGE 140 IV 82 S. 84
2.3 Das Bundesgericht legte im Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5 mit einlässlicher Begründung dar, dass der Strafbefehl mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie (Art. 29a

SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29a Rechtsweggarantie - Jede Person hat bei Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde. Bund und Kantone können durch Gesetz die richterliche Beurteilung in Ausnahmefällen ausschliessen. |

IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde. |
|
a | innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden; |
b | ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben; |
c | sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; |
d | Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; |
e | unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht. |
2.4 Gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 85 Form der Mitteilungen und der Zustellung - 1 Die Strafbehörden bedienen sich für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 205 Erscheinungspflicht, Verhinderung und Säumnis - 1 Wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, hat der Vorladung Folge zu leisten. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 205 Erscheinungspflicht, Verhinderung und Säumnis - 1 Wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, hat der Vorladung Folge zu leisten. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 205 Erscheinungspflicht, Verhinderung und Säumnis - 1 Wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, hat der Vorladung Folge zu leisten. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 355 Verfahren bei Einsprache - 1 Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind. |
BGE 140 IV 82 S. 85
Rahmen von Art. 205

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 205 Erscheinungspflicht, Verhinderung und Säumnis - 1 Wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, hat der Vorladung Folge zu leisten. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 355 Verfahren bei Einsprache - 1 Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind. |
2.5 Die einzelnen Bestimmungen der Strafprozessordnung sind im Gesamtzusammenhang des Gesetzes auszulegen. Die verfahrensmässige Durchsetzung des Strafrechts ist das einschneidendste Zwangsmittel der staatlichen Gewalt (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085, 1128 Ziff. 2.1.2). Das Gesetz stellt deshalb mit den "Grundsätzen des Strafverfahrensrechts" in Art. 3

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 3 Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot - 1 Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 3 Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot - 1 Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 355 Verfahren bei Einsprache - 1 Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 353 Inhalt und Eröffnung des Strafbefehls - 1 Der Strafbefehl enthält: |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 3 Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot - 1 Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen. |
BGE 140 IV 82 S. 86
2.6 Der Strafbefehl ist ein Vorschlag zur aussergerichtlichen Erledigung der Strafsache. Einziger Rechtsbehelf ist die Einsprache. Sie ist kein Rechtsmittel, sondern löst das gerichtliche Verfahren aus, in dem über die Berechtigung der im Strafbefehl enthaltenen Deliktsvorwürfe entschieden wird (Botschaft, a.a.O., S. 1291 zu Art. 358 E-StPO bzw. Art. 355

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 355 Verfahren bei Einsprache - 1 Wird Einsprache erhoben, so nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind. |

SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29a Rechtsweggarantie - Jede Person hat bei Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde. Bund und Kantone können durch Gesetz die richterliche Beurteilung in Ausnahmefällen ausschliessen. |

SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 30 Gerichtliche Verfahren - 1 Jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, hat Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Ausnahmegerichte sind untersagt. |
2.7 Nach den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen (Art. 105 Abs. 1

SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 105 Massgebender Sachverhalt - 1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. |
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1 | Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. |
2 | Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht. |
3 | Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so ist das Bundesgericht nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden.96 |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 201 Form und Inhalt - 1 Die Vorladungen von Staatsanwaltschaft, Übertretungsstrafbehörden und Gerichten ergehen schriftlich. |

SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 3 Achtung der Menschenwürde und Fairnessgebot - 1 Die Strafbehörden achten in allen Verfahrensstadien die Würde der vom Verfahren betroffenen Menschen. |