133 III 553
71. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y. (Berufung) 5C.316/2006 vom 5. Juli 2007
Regeste (de):
- Kindesanhörung (Art. 144 Abs. 2
ZGB).
- Werden Kinder durch eine beauftragte Drittperson angehört, muss diese unabhängig und qualifiziert sein. Wo dies für das Kind eine unzumutbare Belastung bedeuten würde, ist von einer erneuten Anhörung durch den Richter abzusehen (E. 4).
Regeste (fr):
- Audition de l'enfant (art. 144 al. 2 CC).
- Lorsque l'enfant est entendu par un tiers nommé à cet effet, celui-ci doit être indépendant et qualifié. Il y a lieu de renoncer à une nouvelle audition par le juge si cela représente une épreuve insupportable pour l'enfant (consid. 4).
Regesto (it):
- Audizione del figlio (art. 144 cpv. 2 CC).
- Se i figli vengono sentiti da una terza persona incaricata, questa dev'essere indipendente e qualificata. Si deve prescindere da una nuova audizione da parte del giudice nei casi in cui questa comportasse una sofferenza che non può essere imposta al figlio (consid. 4).
Sachverhalt ab Seite 553
BGE 133 III 553 S. 553
A. X. und Y. heirateten im Jahr 2000. Sie haben die gemeinsamen Kinder A., geb. 1987, und B., geb. 1998.
B. Der erstinstanzliche Scheidungsrichter teilte die elterliche Sorge über B. der Mutter zu, unter Gewährung eines Besuchsrechts für den Vater von einem Samstag und einem Wochenende pro Monat im ersten halben Jahr und anschliessend von zwei Wochenenden pro Monat sowie eines Ferienrechts von zwei Wochen pro Jahr. Beide Parteien wandten sich gegen die Regelung des persönlichen Verkehrs mit der Tochter. Der Vater forderte ein Ferienrecht von drei Wochen, während die Mutter eine Beschränkung des Besuchsrechts auf zwei Tage pro Monat verlangte. Das Obergericht des Kantons Aargau wies beide Appellationen ab.
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C. Dagegen hat die Mutter Berufung erhoben mit den Begehren um diesbezügliche Aufhebung, um Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Abnahme weiterer Beweise betreffend das Besuchsrecht, insbesondere zur Anhörung von B. In seiner Berufungsantwort hat der Vater ausdrücklich auf die Stellung eines Antrages verzichtet. Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
3. Sind Anordnungen über Kinder zu treffen, werden diese durch das Gericht oder eine beauftragte Drittperson persönlich angehört, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen (Art. 144 Abs. 2
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4. Die Anhörung des Kindes durch den Richter selbst und diejenige durch eine beauftragte Drittperson stehen nach dem Wortlaut von Art. 144 Abs. 2
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BGE 133 III 553 S. 555
kann, und überdies keine neuen Erkenntnisse zu erwarten wären oder der erhoffte Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis zu der durch die erneute Befragung verursachten Belastung stünde (Urteile 5P.322/2003 vom 18. Dezember 2003, E. 3.2, publ. in: FamPra.ch 2004 S. 711; 5C.247/2004 vom 10. Februar 2005, E. 6.3.2). Diesfalls hat der Richter bei seinem Entscheid auf die Ergebnisse der Anhörung durch die Drittperson abzustellen. Dabei kann es sich auch um ein Gutachten handeln, das in einem anderen Verfahren in Auftrag gegeben worden ist. Ausschlaggebend muss sein, dass es sich beim Dritten um eine unabhängige und qualifizierte Fachperson handelt, dass das Kind zu den entscheidrelevanten Punkten befragt worden ist und dass die Anhörung bzw. deren Ergebnis aktuell ist.
5. Im vorliegenden Fall hat das Obergericht auf einen Therapiebericht von K., Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie FSP, vom 15. Juni 2004 sowie auf ein Schreiben des damaligen Erziehungsbeistandes L., Amtsvormund des Bezirks T., vom 25. Mai 2005 verwiesen. Ersterer berichtet über die therapeutische Begleitung von B. im Zusammenhang mit dem seinerzeitigen Verdacht auf sexuelle Ausbeutung. Im Bericht wird ausdrücklich festgehalten, dass eine Befragung oder eine Begutachtung aus dem therapeutischen Auftrag ausgeschlossen worden sei. Es werden denn auch keine Gespräche zwischen Therapeutin und Kind wiedergegeben. Im Übrigen stammt der Bericht aus der Zeit der Klageanhebung und kann bei der über zwei Jahre später erfolgten obergerichtlichen Beurteilung nicht mehr als aktuell gelten, zumal sich die Verhältnisse gerade bei kleineren Kindern schnell ändern können.
Das Schreiben des Amtsvormundes ist an die Parteien gerichtet. Es steht zwar insofern in losem Zusammenhang mit der vorliegend interessierenden Besuchsrechtsfrage, als sich B. diesem gegenüber positiv über bisherige Besuche beim Vater geäussert hat. Abgesehen davon, dass eine "Anhörung" durch den Erziehungsbeistand im Rahmen der Besuchsrechtsausübung ungenügend wäre (Urteil 5P.276/ 2005 vom 28. September 2005, E. 3.2), hat das Schreiben aber gar keine Anhörung zum Gegenstand und wäre es im Übrigen auch zu oberflächlich.