127 I 54
7. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. November 2000 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. 2 Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. 3 Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. - Ein psychiatrisches Gutachten ohne persönliche Untersuchung des Betroffenen ist nur ausnahmsweise zulässig. Gründe für Ausnahmen (E. 2e-g).
Regeste (fr):
- Art. 9 et art. 29 al. 2 Cst.; arbitraire, droit d'être entendu, prise en considération d'une expertise psychiatrique fondée uniquement sur les pièces du dossier de la procédure pénale.
- Une expertise psychiatrique, sans examen de l'expertisé lui-même, n'est admissible qu'à titre exceptionnel. Circonstances permettant cette exception (consid. 2e-g).
Regesto (it):
- Art. 9 e art. 29 cpv. 2 Cost.; arbitrio, diritto di essere sentito, valore di una perizia psichiatrica che si fonda unicamente sugli allegati dell'incarto penale.
- Una perizia psichiatrica senza aver visitato di persona il paziente è ammissibile solo eccezionalmente. Motivi che giustificano tale eccezione (consid. 2e-g).
Sachverhalt ab Seite 55
BGE 127 I 54 S. 55
(Zu Sachverhalt und Verfahren vgl. BGE 127 IV 1)
X. führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes aufzuheben; er sei sofort aus der Haft zu entlassen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. a) Der Beschwerdeführer bringt vor, das Obergericht habe im Wesentlichen auf das Gutachten von Dr. M. Kiesewetter vom 21. Juli 1999 abgestellt. Dabei handle es sich um ein reines Aktengutachten, welches sich auf frühere Gutachten stütze und ohne Anhörung und psychiatrische Untersuchung des Beschwerdeführers erstattet worden sei. Das Gutachten von Dr. Kiesewetter habe keine fundierten Aussagen zur aktuellen psychischen Situation des Beschwerdeführers machen können. Indem das Obergericht darauf abgestellt habe, habe es den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
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1 | Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
2 | Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. |
3 | Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |
BGE 127 I 54 S. 56
b) Gemäss Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
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1 | Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist. |
2 | Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör. |
3 | Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. |
BGE 127 I 54 S. 57
seinen im Schreiben an den Verteidiger formulierten Verzicht auf "weitere Gutachten bzw. gutachterliche Untersuchung"; dem Verlangen des Beschwerdeführers, zu seinen abgegebenen Erklärungen, Behauptungen und Klassifikationen Dritter Stellung zu nehmen, könne er nicht nachkommen; dies umso weniger, als der Beschwerdeführer andere Auffassungen zum Vornherein als falsch und bösartig bezeichne; da der Beschwerdeführer die vorgesehene gutachterliche Untersuchung abgelehnt habe und Dr. Kiesewetter keine Möglichkeit zu ihrer sinnvollen Durchführung sehe, werde er nach Studium der Akten prüfen, ob und wieweit es gestützt darauf möglich sei, zu den vom Obergericht gestellten Fragen eine Antwort zu finden. d) Man kann sich fragen, ob die Rüge nicht Treu und Glauben widerspricht und damit unzulässig ist, da der Beschwerdeführer sich den Umstand, dass eine persönliche Untersuchung unterblieb, im Wesentlichen selber zuzuschreiben hat. Doch kann dies offen bleiben, weil die Rüge aus den nachfolgenden Erwägungen jedenfalls unbegründet ist. e) Das Schrifttum geht mehrheitlich offenbar stillschweigend von einer persönlichen Exploration des Probanden aus (vgl. etwa NORBERT NEDOPIL, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl., Stuttgart 2000, S. 276 ff.; WILFRIED RASCH, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl., Stuttgart 1999, S. 313 ff., insb. S. 317; HANS LUDWIG SCHREIBER, Der Sachverständige im Verfahren und in der Verhandlung, in: Psychiatrische Begutachtung, hrsg. von Ulrich Venzlaff und Klaus Foerster, 2. Aufl., Stuttgart etc. 1994, S. 93 ff.; ILSE BARBEY, Die forensischpsychiatrische Untersuchung, in: Psychiatrische Begutachtung, S. 119 ff.; ULRICH VENZLAFF, Die Erstattung des Gutachtens, in: Psychiatrische Begutachtung, S. 139 ff.). PHILIPP MAIER/ARNULF MÖLLER (Das gerichtspsychiatrische Gutachten gemäss Art. 13
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat. |
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1 | Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat. |
2 | Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist. |
Nach GEORG EISEN (Handwörterbuch der Rechtsmedizin, Bd. III: Der Täter, sein sozialer Bezug, seine Begutachtung und Behandlung,
BGE 127 I 54 S. 58
Stuttgart 1977, S. 281) kann ein forensisches Gutachten grundsätzlich nur nach eigener Untersuchung und Befunderhebung abgegeben werden; in seltenen Fällen jedoch nach Aktenlage und als Notbehelf, wenn der Sachverhalt bereits ärztlich aufgeklärt sei, aber zu verschiedenen forensischen Schlussfolgerungen geführt habe, wenn weiterhin der gleiche Sachverständige die Untersuchung schon früher vorgenommen habe und deren Ergebnisse sehr wahrscheinlich gleich geblieben seien und - unter Vorbehalt einer persönlichen Untersuchung vor oder während der Verhandlung - wenn der Proband weit entfernt wohne. Der Beweiswert eines Aktengutachtens sei geringer als der eines Gutachtens mit eigener Untersuchung. f) Daraus kann geschlossen werden, dass psychiatrische Gutachten grundsätzlich nur bei persönlicher Untersuchung des Probanden fachgerecht erstattet werden können. Aktengutachten müssen die Ausnahme darstellen. Solche Ausnahmen sind etwa möglich, wenn über den zu begutachtenden Täter bereits ein oder mehrere Gutachten erstattet worden sind, die überdies jüngeren Datums sein müssen, und wenn sich die Grundlagen der Begutachtung nicht wesentlich geändert haben (nach wie vor gleiches Krankheitsbild). Ein Aktengutachten kommt auch in Betracht, wenn der Proband nicht oder nur schwer erreichbar ist oder sich einer Begutachtung verweigert. Ob bei einer derartigen Konstellation sich ein Aktengutachten verantworten lässt, hat in erster Linie der angefragte Sachverständige zu beurteilen. g) Dem Obergericht lagen die zwei Gutachten von Dr. Sachs vor und überdies das Einvernahmeprotokoll der Aussagen von Dr. Sachs vor Bezirksgericht. Das Krankheitsbild des Beschwerdeführers hatte sich nicht wesentlich verändert. Das Obergericht durfte, ohne in Willkür zu verfallen, davon ausgehen, dass sich die persönliche Exploration des Beschwerdeführers wegen der von diesem eingenommenen Verweigerungshaltung als unmöglich erwiesen habe. Dr. Kiesewetter sah sich im Stande, sich zu den Fragen des Obergerichts zu äussern; er führte aus, die Möglichkeit einer Begutachtung werde dadurch erleichtert, dass sich die Fragestellung ausdrücklich auf Beweisthemen von Art. 43
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 43 - 1 Das Gericht kann den Vollzug einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren teilweise aufschieben, wenn dies notwendig ist, um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen.37 |
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1 | Das Gericht kann den Vollzug einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren teilweise aufschieben, wenn dies notwendig ist, um dem Verschulden des Täters genügend Rechnung zu tragen.37 |
2 | Der unbedingt vollziehbare Teil darf die Hälfte der Strafe nicht übersteigen. |
3 | Sowohl der aufgeschobene wie auch der zu vollziehende Teil müssen mindestens sechs Monate betragen.38 Die Bestimmungen über die Gewährung der bedingten Entlassung (Art. 86) sind auf den unbedingt zu vollziehenden Teil nicht anwendbar. |
BGE 127 I 54 S. 59
Bei dieser Sachlage hat das Obergericht weder das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt noch ist es in Willkür verfallen, als es auf das Aktengutachten von Dr. Kiesewetter abgestellt hat.