Urteilskopf

121 V 243

38. Auszug aus dem Urteil vom 5. Dezember 1995 i.S. P., M. gegen Ausgleichskasse Luzern und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
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Erwägungen ab Seite 243

BGE 121 V 243 S. 243

Aus den Erwägungen:

4. a) Es steht unbestrittenerweise fest, dass die der Ausgleichskasse seit 1986 angeschlossene Firma X AG der Beitragsabrechnungs- und -ablieferungspflicht klaglos nachkam, bis sie im Verlaufe des Jahres 1992 in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet. Die beiden Beschwerdeführer liessen es zu, dass die Firma die paritätischen Beiträge der Zahlungsperioden Juni, Juli und August 1992, zuzüglich des aus der Schlussabrechnung sich
BGE 121 V 243 S. 244

ergebenden Negativsaldos, schuldig blieb. Ein Verstoss gegen die Beitragsabrechnungspflicht kann der Gesellschaft und ihren beiden Verwaltungsräten damit von vornherein nicht angelastet werden. Hingegen ist die Frage zu prüfen, wie die - angesichts der massgeblich gewesenen einmonatigen Zahlungsperiode (Art. 34 Abs. 1 lit. a
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV)
AHVV Art. 34 Zahlungsperioden - 1 Es haben der Ausgleichskasse die Beiträge zu zahlen:
1    Es haben der Ausgleichskasse die Beiträge zu zahlen:
a  Arbeitgeber monatlich oder, wenn die jährliche Lohnsumme 200 000 Franken nicht übersteigt, vierteljährlich;
b  Selbstständigerwerbende und Nichterwerbstätige sowie Arbeitnehmer nicht beitragspflichtiger Arbeitgeber, vierteljährlich;
c  Arbeitgeber im vereinfachten Verfahren nach den Artikeln 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005147 über Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit (BGSA), jährlich.
2    Die Ausgleichskasse kann in begründeten Fällen für Beitragspflichtige nach Absatz 1 Buchstaben a und b, deren Jahresbeitrag an die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sowie an die Erwerbsersatzordnung 3000 Franken nicht übersteigt, längere, höchstens aber jährliche Zahlungsperioden festsetzen.148
3    Die für eine Zahlungsperiode geschuldeten Beiträge sind innert zehn Tagen nach deren Ablauf zu bezahlen. Im vereinfachten Verfahren nach den Artikeln 2 und 3 BGSA haben die Arbeitgeber die Beiträge innert 30 Tagen ab Rechnungsstellung zu bezahlen.149
AHVV) für Juni, Juli und August klar ausgewiesene - Verletzung der Beitragszahlungspflicht verschuldensmässig zu werten ist. b) In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung nicht jede Verletzung der öffentlichrechtlichen Aufgaben der Arbeitgeberin als Institution der Versicherungsdurchführung ohne weiteres als qualifiziertes Verschulden ihrer Organe im Sinne von Art. 52
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 52 Haftung - 1 Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen.
1    Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen.
2    Handelt es sich beim Arbeitgeber um eine juristische Person, so haften subsidiär die Mitglieder der Verwaltung und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, so haften sie für den ganzen Schaden solidarisch.292
3    Der Schadenersatzanspruch verjährt nach den Bestimmungen des Obligationenrechts293 über die unerlaubten Handlungen.294
4    Die zuständige Ausgleichskasse macht den Schadenersatz durch Erlass einer Verfügung geltend.295
5    In Abweichung von Artikel 58 Absatz 1 ATSG296 ist für die Beschwerde das Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat.
6    Die Haftung nach Artikel 78 ATSG ist ausgeschlossen.
AHVG zu werten ist (BGE 108 V 186 Erw. 1b und 193 Erw. 2b; ZAK 1985 S. 576 Erw. 2 und 619 f. Erw. 3a). Das absichtliche oder grobfahrlässige Missachten von Vorschriften verlangt vielmehr einen Normverstoss von einer gewissen Schwere. Dagegen kann beispielsweise die relativ kurze Dauer des Beitragsausstandes sprechen (vgl. das nicht veröffentlichte Urteil Q. vom 22. November 1993), wobei aber immer eine Würdigung sämtlicher konkreten Umstände des Einzelfalles Platz zu greifen hat. Die Frage der Dauer des Normverstosses ist somit ein Beurteilungskriterium, welches im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen ist und im Sinne der Rechtsprechung zu den Entlastungsgründen (BGE 108 V 186 f. Erw. 1b, 200 f. Erw. 1) zur Verneinung der Schadenersatzpflicht führen kann. Insoweit im nicht veröffentlichten Urteil Q. vom 22. November 1993 für die Verneinung der Grobfahrlässigkeit allein auf die kurze Dauer der Verletzung der Beitragszahlungspflicht abgestellt wurde, kann daran nicht festgehalten werden.
5. Die Nichtabrechnung oder - was auf den vorliegenden Fall zutrifft - die Nichtbezahlung der Beiträge als solche darf nicht einem qualifizierten Verschulden gleichgesetzt werden, weil dies auf eine nach Gesetz und Rechtsprechung unzulässige, da in Art. 52
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 52 Haftung - 1 Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen.
1    Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen.
2    Handelt es sich beim Arbeitgeber um eine juristische Person, so haften subsidiär die Mitglieder der Verwaltung und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, so haften sie für den ganzen Schaden solidarisch.292
3    Der Schadenersatzanspruch verjährt nach den Bestimmungen des Obligationenrechts293 über die unerlaubten Handlungen.294
4    Die zuständige Ausgleichskasse macht den Schadenersatz durch Erlass einer Verfügung geltend.295
5    In Abweichung von Artikel 58 Absatz 1 ATSG296 ist für die Beschwerde das Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat.
6    Die Haftung nach Artikel 78 ATSG ist ausgeschlossen.
AHVG gerade nicht vorgesehene Kausalhaftung hinausliefe (vgl. ZAK 1985 S. 51 Erw. 2a mit Hinweisen). Die von den Beschwerdeführern verwaltete Firma ist ihren Beitragsverpflichtungen nach unbestrittener Darstellung seit ihrer Gründung im Jahr 1986 immer klaglos nachgekommen und musste niemals gemahnt oder betrieben werden. Dies änderte sich auch nicht, als die Firma im Jahr 1991 zunehmend die Auswirkungen der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage zu verspüren bekam, welche zufolge des Arbeitskräfteüberangebots auf dem
BGE 121 V 243 S. 245

Arbeitsmarkt die Personalvermittlungsbranche in besonderem Masse traf. Die Firmenverantwortlichen ergriffen in dieser von Umsatzeinbussen geprägten Zeit verschiedene Massnahmen, die es erlaubten, dass die Unternehmung trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten ihren AHV-rechtlichen Arbeitgeberpflichten nachkam. Erst der konkursbedingte Ausfall eines Debitorengläubigers entzog der Firma die Existenzgrundlage, woran auch ein im Mai 1992 aufgenommener, mit einer Solidarbürgschaftsverpflichtung durch den Verwaltungsratspräsidenten gesicherter Kredit in der Höhe von Fr. 40'000.- nichts mehr zu ändern vermochte. Die Verantwortlichen sahen sich infolgedessen veranlasst, im September 1992 gestützt auf eine Zwischenbilanz per 31. August 1992 den Richter zu benachrichtigen (Art. 725 Abs. 2
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 725 - 1 Der Verwaltungsrat überwacht die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft.
1    Der Verwaltungsrat überwacht die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft.
2    Droht die Gesellschaft zahlungsunfähig zu werden, so ergreift der Verwaltungsrat Massnahmen zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit. Er trifft, soweit erforderlich, weitere Massnahmen zur Sanierung der Gesellschaft oder beantragt der Generalversammlung solche, soweit sie in deren Zuständigkeit fallen. Er reicht nötigenfalls ein Gesuch um Nachlassstundung ein.
3    Der Verwaltungsrat handelt mit der gebotenen Eile.
OR), worauf am 24. September 1992 der Konkurs eröffnet wurde. Alle diese im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen stehenden Vorkehren und getroffenen Restrukturierungsmassnahmen (insbesondere Personalabbau), einschliesslich der bis zu diesem Zeitpunkt einwandfreien, straffen Handhabung des Beitragswesens, dokumentieren, dass die Beschwerdeführer in keiner Weise beabsichtigten, ihren Betrieb auf Kosten der Ausgleichskasse weiterzuführen. Unter diesen Umständen kann nicht von einem im Sinne der obgenannten Ausführungen schweren Normverstoss gesprochen werden, wenn die Beschwerdeführer in den folgenden drei Monaten (Juni, Juli und August 1992) des endgültigen Zusammenbruchs die unbestrittenermassen geschuldeten paritätischen Sozialversicherungsbeiträge nicht mehr ablieferten. Mithin fällt ein haftungsbegründendes qualifiziertes Verschulden, wie es Art. 52
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 52 Haftung - 1 Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen.
1    Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen zu ersetzen.
2    Handelt es sich beim Arbeitgeber um eine juristische Person, so haften subsidiär die Mitglieder der Verwaltung und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, so haften sie für den ganzen Schaden solidarisch.292
3    Der Schadenersatzanspruch verjährt nach den Bestimmungen des Obligationenrechts293 über die unerlaubten Handlungen.294
4    Die zuständige Ausgleichskasse macht den Schadenersatz durch Erlass einer Verfügung geltend.295
5    In Abweichung von Artikel 58 Absatz 1 ATSG296 ist für die Beschwerde das Versicherungsgericht des Kantons zuständig, in welchem der Arbeitgeber seinen Wohnsitz hat.
6    Die Haftung nach Artikel 78 ATSG ist ausgeschlossen.
AHVG für die Schadenersatzverpflichtung verlangt, im vorliegenden Fall ausser Betracht.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 121 V 243
Date : 05. Dezember 1995
Published : 31. Dezember 1995
Source : Bundesgericht
Status : 121 V 243
Subject area : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Subject : Art. 52 AHVG. Die kurze Dauer des Beitragsausstandes ist als ein Element im Rahmen der Gesamtwürdigung aller Umstände im


Legislation register
AHVG: 52
AHVV: 34
OR: 725
BGE-register
108-V-183 • 121-V-243
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duration • value • question • company • measure • month • strict liability • hamlet • 1995 • interim balance sheet • final account