121 II 110
18. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 12. Juli 1995 i.S. Jamal Miri gegen Fremdenpolizei des Kantons Bern und Richteramt II von Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 13b Abs. 2
in Verb. mit 13c Abs. 2 und 3 ANAG; Ausschaffungshaft.
- Der Haftrichter entscheidet über die Ausschaffungshaft immer aufgrund einer mündlichen Verhandlung, so auch bei der Zustimmung gemäss Art. 13b Abs. 2
ANAG zur Verlängerung der Ausschaffungshaft nach drei Monaten (E. 1).
- Wurde die Zustimmung zur Haftverlängerung ohne mündliche Verhandlung erteilt, ist der Ausländer, ohne Rückweisung der Sache an den Haftrichter zu neuem Entscheid, aus der Haft zu entlassen, wenn er weder die öffentliche Sicherheit gefährdet noch die öffentliche Ordnung massgeblich beeinträchtigt (E. 2).
Regeste (fr):
- Art. 13b al. 2 en relation avec l'art. 13c al. 2 et 3 LSEE; détention.
- L'autorité judiciaire prononce la détention toujours sur la base d'une procédure orale; il en va de même lors de l'accord donné selon l'art. 13b al. 2 LSEE à la prolongation de la détention après trois mois (consid. 1).
- Si l'accord à la prolongation de la détention a été donné sans procédure orale, l'étranger doit être libéré, sans renvoi de la cause à l'autorité judiciaire pour nouvelle décision, à moins qu'il ne menace la sécurité publique ou ne compromette gravement l'ordre public (consid. 2).
Regesto (it):
- Art. 13b cpv. 2 combinato con l'art. 13c cpv. 2 e 3 LDDS; carcerazione.
- L'autorità giudiziaria decide una carcerazione sempre in base a una procedura orale, anche quando si tratta di acconsentire alla proroga della carcerazione dopo tre mesi ai sensi dell'art. 13b cpv. 2 LDDS (consid. 1).
- Se il consenso alla proroga della carcerazione non è stato dato in base a una procedura orale, lo straniero dev'essere scarcerato, senza rinvio della causa all'autorità giudiziaria per nuovo giudizio, a meno che egli minacci la sicurezza pubblica oppure comprometta gravemente l'ordine pubblico (consid. 2).
Sachverhalt ab Seite 110
BGE 121 II 110 S. 110
Das Bundesamt für Flüchtlinge wies am 14. Juni 1994 ein Asylgesuch des aus dem Libanon stammenden Palästinensers Jamal Miri ab und wies ihn aus der Schweiz weg. Die Schweizerische Asylrekurskommission bestätigte am 30. September 1994 die Verfügung des Bundesamtes, und dieses setzte Frist bis 31. Oktober 1994 zum Verlassen der Schweiz. Jamal Miri kam dieser Aufforderung in der Folge nicht nach. Die Fremdenpolizei des Kantons Bern verfügte am 22. Februar 1995 die Ausschaffung von Jamal Miri und ordnete zur Sicherstellung dieser Massnahme die Ausschaffungshaft an. Nach einer ersten erfolglosen Vorsprache am 6. April 1995 konnte die Polizei Jamal Miri am 9. April 1995 anhalten und in
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Ausschaffungshaft nehmen. Der a.o. Untersuchungsrichter 3 von Bern bestätigte am 13. März 1995 nach mündlicher Anhörung von Jamal Miri die Ausschaffungshaft. Der Gerichtspräsident II von Bern wies am 3. Mai 1995 ein Haftentlassungsgesuch Jamal Miris nach Durchführung einer Verhandlung ab. Auf eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde trat das Bundesgericht nicht ein, soweit sie sich gegen den Haftbestätigungsentscheid des Untersuchungsrichters richtete, und wies sie ab, soweit damit der Haftbelassungsentscheid des Gerichtspräsidenten angefochten wurde (nicht veröffentlichtes Urteil vom 20. Juni 1995).
Der Ausländer- und Bürgerrechtsdienst der Kantonspolizei Bern ersuchte am 1. Juni 1995 um Verlängerung der Ausschaffungshaft. Am 7. Juni 1995 hiess der Gerichtspräsident II von Bern das Gesuch nach Einholen einer schriftlichen Vernehmlassung gut und verlängerte die Ausschaffungshaft um sechs Monate. Am 30. Juni 1995 erhob Jamal Miri gegen den Haftverlängerungsentscheid vom 7. Juni 1995 Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut und ordnet die unverzügliche Haftentlassung von Jamal Miri an,
Erwägungen
aus folgenden Erwägungen:
1. a) Gemäss Art. 13b Abs. 1
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inhaftierte Ausländer kann einen Monat nach der Haftprüfung ein Haftentlassungsgesuch einreichen, worüber die richterliche Behörde innert acht Arbeitstagen aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden hat; ein erneutes Gesuch um Haftentlassung kann bei der Ausschaffungshaft nach zwei Monaten gestellt werden (Art. 13c Abs. 4
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Diese Rüge ist begründet. Wohl sieht das Gesetz hinsichtlich der Haftverlängerung nach drei Monaten Haft bloss vor, dass diese der richterlichen Zustimmung bedürfe; von einer mündlichen Verhandlung ist nicht die Rede. Das vom Gesetzgeber geschaffene System mit einer Abfolge von richterlichen Entscheiden vorerst über die Anordnung der Ausschaffungshaft, dann über ein allfälliges Haftentlassungsgesuch, anschliessend über die Verlängerung der Ausschaffungshaft und sodann über allfällige weitere Haftentlassungsgesuche schliesst indessen die Annahme aus, dass einzig und gerade für den Haftverlängerungsentscheid keine mündliche Verhandlung durchgeführt werden müsste. Es machte offensichtlich keinen Sinn, dem inhaftierten Ausländer eine mündliche Verhandlung nach einem Monat, dann nach dem fünften und schliesslich nach dem siebten Haftmonat zu garantieren, wenn der Haftrichter bloss auf Gesuch hin tätig wird, nicht aber nach dem dritten Monat, für welchen Zeitpunkt das Gesetz eine obligatorische Haftprüfung vorschreibt. Vielmehr ist anzunehmen, dass eine vollständige Haftprüfung und damit auch eine mündliche Verhandlung
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(zumindest) alle zwei Monate ermöglicht werden sollte. Dem Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass es nicht Absicht des Gesetzgebers gewesen sein konnte, eine mündliche Verhandlung gerade dann als entbehrlich zu betrachten, wenn an die Fortsetzung der Haft weitere Anforderungen gestellt werden und nebst sämtlichen sich bei Haftentlassungsgesuchen stellenden Fragen zusätzlich zu prüfen ist, ob dem Vollzug der Weg- oder Ausweisung besondere Hindernisse entgegenstehen. Dass der Gesetzgeber für die richterliche Zustimmung zur Haftverlängerung nicht ausdrücklich eine mündliche Verhandlung fordert, ist unter diesen Umständen nicht als qualifiziertes Schweigen zu werten, wie auch das Bundesamt für Flüchtlinge in seiner Vernehmlassung zu Recht festhält. Der angefochtene, in einem schriftlichen Verfahren ergangene Entscheid verletzt demnach Bundesrecht und ist aufzuheben.
2. a) Nicht jede Verletzung von Verfahrensvorschriften führt zur Haftentlassung. Es kommt vielmehr einerseits darauf an, welche Bedeutung den verletzten Vorschriften für die Wahrung der Rechte des Betroffenen zukommt. Einer Haftentlassung kann andererseits das Interesse an einer reibungslosen Durchsetzung der Ausschaffung entgegenstehen. Dieses hat besonderes Gewicht und vermag unter Umständen selbst erhebliche Verfahrensfehler aufzuwiegen, wenn der Ausländer die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet (BGE 121 II 109 E. 2c).
b) Der Anspruch auf mündliche Verhandlung vor dem Richter stellt eine wichtige prozessuale Garantie dar, welche vor willkürlichem Entzug der Freiheit schützen soll. Dies zeigt gerade der vorliegende Fall. Der Haftrichter musste aufgrund der Vorbringen einerseits in der Vernehmlassung des Beschwerdeführers im Haftverlängerungsverfahren, andererseits in der ihm bekannten Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 31. Mai 1995 gegen den Entscheid vom 3. Mai 1995 über das Haftentlassungsgesuch vorerst prüfen, ob der Haftgrund (noch) erfüllt war, und sich mit den Haftbedingungen im Bezirksgefängnis Frutigen befassen. Eine umfassende Prüfung mit der Möglichkeit von Rückfragen, beispielsweise bei der Fremdenpolizei, war ernsthaft nur im Rahmen einer mündlichen Verhandlung möglich. Der Verzicht darauf stellt einen gewichtigen Verfahrensfehler dar. Demgegenüber gibt es keine Anzeichen dafür, dass der Beschwerdeführer die öffentliche Sicherheit in irgendeiner Weise gefährdet oder die öffentliche Ordnung massgeblich beeinträchtigt hätte (vgl. auch nachfolgend E. c). Es
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steht lediglich fest, dass er nach rechtskräftiger Abweisung des Asylgesuchs vorerst keine Schritte unternommen hat, die Schweiz zu verlassen. Unter diesen Umständen ist der Beschwerdeführer aus der Ausschaffungshaft zu entlassen. c) Die Haftentlassung rechtfertigt sich um so mehr, als der Beschwerdeführer beim Haftrichter gewichtige Rügen wegen der Haftbedingungen im Bezirksgefängnis Frutigen vortrug; so soll es ihm verunmöglicht sein, täglich im Freien zu spazieren. In seinem Entscheid hat der Haftrichter bloss festgestellt, dass der Beschwerdeführer "sich offenbar zur Zeit im Bezirksgefängnis Frutigen befindet", und weiter ausgeführt, es bestehe kein Anspruch auf geeignete Beschäftigung. Zu den in der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen Vorwürfen hat er nicht Stellung genommen. Auch die Fremdenpolizei hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die Darstellung des Beschwerdeführers, er könne nicht täglich im Freien spazieren, ist unwidersprochen geblieben. Schliesslich ist zweifelhaft, ob der Haftgrund von Art. 13b Abs. 1 lit. c
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Haftrichter hat die Übergangsbestimmung zum Zwangsmassnahmengesetz auch in seinem neuen Entscheid nicht beachtet), kaum genügend konkrete Anzeichen dafür erkennen, dass der Beschwerdeführer sich der Ausschaffung entziehen will. d) Wird der Beschwerdeführer freigelassen, ist es den kantonalen Behörden nicht verwehrt, die nötigen Vorkehren für die Ausschaffung zu treffen. So steht nichts entgegen, dem Beschwerdeführer aufzuerlegen, sich den Behörden für Abklärungen zur Verfügung zu halten. Sollte er untertauchen, läge ein neuer Sachverhalt vor, der Grundlage dafür sein könnte, dass er wieder inhaftiert wird.