114 Ia 263
41. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 4. Mai 1988 i.S. Appenzeller Bürgerinnen und Landesring der Unabhängigen gegen Kanton Appenzell A.Rh. (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Stimmrechtsbeschwerde: Legitimation und Letztinstanzlichkeit.
- 1. Für die Legitimation zur Stimmrechtsbeschwerde im Sinne von Art. 85 lit. a OG genügt es im vorliegenden Fall, dass die Wahlberechtigung der Beschwerdeführerinnen umstritten ist (E. 1).
- 2. Die Stimmrechtsbeschwerde verlangt nach Art. 86 Abs. 1 OG die Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges. Im vorliegenden Fall sind keine Umstände gegeben, davon abzuweichen (E. 2).
Regeste (fr):
- Recours en matière de droit de vote: qualité pour recourir et exigence d'une décision prise en dernière instance.
- 1. Pour admettre la légitimation des recourantes à former le recours pour violation du droit de vote au sens de l'art. 85 let. a OJ, il suffit en l'espèce que leur qualité d'électrices soit contestée (consid. 1).
- 2. Le recours pour violation du droit de vote exige, en vertu de l'art. 86 al. 1 OJ, l'épuisement des instances cantonales. Il n'existe dans le cas particulier aucune circonstance permettant de déroger à cette règle (consid. 2).
Regesto (it):
- Ricorso in materia di diritto di voto: legittimazione ricorsuale e presupposto di una decisione emanata in ultima istanza.
- 1. Per ammettere la legittimazione delle ricorrenti a proporre ricorso per violazione del diritto di voto ai sensi dell'art. 85 lett. a OG è sufficiente nella fattispecie che sia contestata la loro qualità di elettrici (consid. 1).
- 2. Il ricorso per violazione del diritto di voto esige, in virtù dell'art. 86 cpv. 1 OG, che siano state esaurite le istanze cantonali. Non sussiste nel caso concreto alcuna circostanza che permetta di derogare a tale regola (consid. 2).
Sachverhalt ab Seite 263
BGE 114 Ia 263 S. 263
Am 17./18. Oktober 1987 fand im Kanton Appenzell A.Rh. die Ständeratswahl statt; ihr Ergebnis wurde im Amtsblatt vom 21. Oktober 1987 publiziert. Wählbar und wahlberechtigt war jeder im Kanton wohnhafte, handlungsfähige und stimmberechtigte Schweizer Bürger männlichen Geschlechts. Der Ausschluss der Frauen vom aktiven und passiven Wahlrecht ergab sich aus
BGE 114 Ia 263 S. 264
Art. 19 und 20 der Verfassung für den Kanton Appenzell A.Rh. (KV). Mit Stimmrechtsbeschwerden vom 16. und 18. November 1987 verlangen zahlreiche im Kanton Appenzell A.Rh. wohnhafte volljährige Frauen sowie die Kantonalpartei Appenzell A.Rh. des Landesrings der Unabhängigen, die Ständeratswahl sei ungültig zu erklären und der Kanton sei anzuweisen, die Wahlen in Berücksichtigung des aktiven und passiven Wahlrechts der Frauen zu wiederholen. Das Bundesgericht tritt auf die Stimmrechtsbeschwerde nicht ein.
Erwägungen
Erwägungen:
1. a) Die privaten Beschwerdeführerinnen sind unbestrittenermassen volljährige, im Kanton wohnhafte Kantonsbürger oder niedergelassene Schweizer Bürger, denen wie allen im Kanton wohnhaften Frauen gemäss Art. 19 und 20 der Kantonsverfassung das aktive und passive Stimm- und Wahlrecht in kantonalen Angelegenheiten nicht zusteht. Nur bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen (Art. 74
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 74 Umweltschutz - 1 Der Bund erlässt Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen. |
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1 | Der Bund erlässt Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen. |
2 | Er sorgt dafür, dass solche Einwirkungen vermieden werden. Die Kosten der Vermeidung und Beseitigung tragen die Verursacher. |
3 | Für den Vollzug der Vorschriften sind die Kantone zuständig, soweit das Gesetz ihn nicht dem Bund vorbehält. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
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BGE 114 Ia 263 S. 265
kann, muss es in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Wahlberechtigung der Beschwerdeführerinnen als solche umstritten ist, für ihre Legitimation genügen, dass sie Adressatinnen des Hoheitsaktes sind, mit welchem ihnen die kantonale Behörde das Wahlrecht abspricht (BGE 83 I 173 ff.; WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1984, S. 262). Die privaten Beschwerdeführerinnen sind demnach legitimiert, ihren Ausschluss von der Teilnahme an kantonalen Wahlen mit Stimmrechtsbeschwerde zu rügen. c) Die Kantonalpartei des Landesrings der Unabhängigen ist ebenfalls zur Stimmrechtsbeschwerde befugt. Dass sie als politische Partei im Kanton Appenzell A.Rh. tätig ist und sich als juristische Person konstituiert hat, ist unbestritten. Sie erfüllt damit die Voraussetzungen der Beschwerdelegitimation (BGE 112 Ia 211 E. la mit Verweisung).
2. Stimmrechtsbeschwerden gemäss Art. 85 lit. a OG sind, wie Art. 86 Abs. 1 OG ausdrücklich festhält, nur gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig (sog. relative Subsidiarität der staatsrechtlichen Beschwerde). a) Sowohl die privaten Beschwerdeführerinnen als auch die Kantonalpartei des Landesrings der Unabhängigen haben ausdrücklich darauf verzichtet, zunächst das im kantonalen Recht vorgesehene Beschwerderecht auszuüben. Gemäss Art. 47 der Verordnung vom 6. November 1978 über die politischen Rechte kann wegen Verletzung des Stimmrechts sowie wegen Unregelmässigkeiten bei der Vorbereitung und Durchführung von Wahlen und Abstimmungen beim Regierungsrat Beschwerde geführt werden. Die Beschwerde ist innert drei Tagen seit der Entdeckung des Beschwerdegrundes, spätestens jedoch am dritten Tag nach der amtlichen Veröffentlichung der Ergebnisse einzureichen (Art. 46 Abs. 2). Weil keine solche Beschwerde eingereicht wurde, beantragt der Regierungsrat, wegen Nichterschöpfung des kantonalen Instanzenzuges auf die Beschwerden nicht einzutreten. b) Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann vom Erfordernis der Ausschöpfung der kantonalen Instanzen abgesehen werden, wenn ernsthafte Zweifel über die Zulässigkeit eines kantonalen Rechtsmittels bestehen (BGE 110 Ia 213 E. 1, mit Hinweisen). Dies trifft in der vorliegenden Sache nicht zu und wird auch nicht geltend gemacht. Eine zweite Ausnahme lässt die Rechtsprechung zu, wenn die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges eine leere, zwecklose Formalität wäre (BGE 103 Ia 363
BGE 114 Ia 263 S. 266
E. 1a). Auf diese Ausnahme berufen sich die Beschwerdeführerinnen, indem sie geltend machen, in der Wegleitung des Regierungsrates für die Ständeratswahl sei in Ziffer 1 festgehalten worden, dass nur im Kanton wohnhafte Schweizerbürger männlichen Geschlechts wählbar und wahlberechtigt seien. Nach ihrer Meinung hat damit der Regierungsrat seine Auffassung in der umstrittenen Frage bereits eindeutig zum Ausdruck gebracht, so dass eine Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges sinnlos gewesen wäre. c) Eine Ausnahme vom Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges darf nicht leichthin angenommen werden. Der Grundsatz der relativen Subsidiarität der staatsrechtlichen Beschwerde bezweckt nicht nur die Entlastung des Bundesgerichts, sondern dient auch der Schonung der kantonalen Souveränität (KÄLIN, a.a.O., S. 277). Der praktisch wichtigste Anwendungsfall des Verzichtes auf die Ausschöpfung des Instanzenzuges ist dann gegeben, wenn eine untere Instanz nach Weisungen der Rechtsmittelinstanz entschieden hat (BGE 105 Ia 56 E. 1a, mit Hinweisen). So verhält es sich bei Anfechtung von Vorbereitungshandlungen für eine kantonale Abstimmung oder bei Beschwerden gegen das Abstimmungsergebnis nicht. Bei Anfechtung von Vorbereitungsmassnahmen - etwa von amtlichen Abstimmungserläuterungen - hat das Bundesgericht vom Erfordernis einer förmlichen Beschwerde an den Regierungsrat als Beschwerdeinstanz in einem Falle abgesehen, in welchem die Beschwerdeführer ihre Rügen in einem Schreiben vorgebracht hatten, die vom Regierungsrat noch vor dem Abstimmungstermin ebenfalls mit einem Schreiben zurückgewiesen wurden (Urteil vom 4. Oktober 1978 i.S. POCH c. Solothurn, in: ZBl 80/1979 S. 529 E. 2b). Im vorliegenden Falle gibt die amtliche Wegleitung für die Ständeratswahl einzig die gemäss der Kantonsverfassung geltende Rechtslage hinsichtlich des Ausschlusses der Frauen von der politischen Wahlberechtigung in kantonalen Angelegenheiten wieder. Eine Stellungnahme des Regierungsrates als Beschwerdeinstanz zu der in beiden Beschwerden aufgeworfenen Rechtsfrage, ob die in den Artikeln 19 und 20 der Kantonsverfassung am 30. April 1972 getroffene Regelung gegen den im Jahre 1981 auf eidgenössischer Ebene angenommenen Artikel 4 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. |
BGE 114 Ia 263 S. 267
d) Selbst wenn anzunehmen ist, der Regierungsrat werde als Beschwerdeinstanz die Rechtsauffassung der Beschwerdeführerinnen ablehnen, so ändert dies nichts daran, dass er als kantonale Rechtsmittelinstanz darauf bestehen darf, in dieser Eigenschaft sich in dem ihm obliegenden Entscheid mit den Vorbringen der Beschwerdeführerinnen auseinanderzusetzen. Für den Verzicht auf die Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges genügt es nicht, dass vorausgesehen werden kann, wie der Entscheid der Rechtsmittelinstanz ausfällt (KÄLIN, a.a.O., S. 279 in Anm. 108). Nur wenn die oberste Instanz in der gleichen Sache ihre Meinung bereits klar zum Ausdruck gebracht hat, kann hierauf verzichtet werden (BGE 96 I 644 E. 1).
So verhält es sich in der vorliegenden Auseinandersetzung nicht. Es ist nicht dasselbe, ob sich der Regierungsrat erstmals in einer Stellungnahme auf eine Stimmrechtsbeschwerde zuhanden des Bundesgerichts zu den erhobenen Rügen äussert, oder ob er als Staatsorgan, dem die Beurteilung von Beschwerden wegen Verletzung des Stimmrechts in kantonalen Angelegenheiten obliegt, als Entscheidungsinstanz urteilt. Zu Recht durfte er sich in seiner Vernehmlassung damit begnügen, lediglich der Vollständigkeit halber einige Bemerkungen in materieller Hinsicht anzubringen, primär jedoch darauf zu bestehen, Nichteintreten zu beantragen, weil der kantonale Instanzenzug nicht ausgeschöpft wurde. Nach PETER LUDWIG (Endentscheid, Zwischenentscheid und Letztinstanzlichkeit im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren, in: ZBJV 110/1974 S. 194) ist es in diesem Falle ausgeschlossen, auf die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges zu verzichten, auch wenn die Rechtsmittelinstanz in ihrer Vernehmlassung zu erkennen gibt, dass sie gegen den Beschwerdeführer entschieden hätte.