Urteilskopf

113 Ia 465

69. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20. November 1987 i.S. B. gegen Kanton Basel-Stadt und Steuerrekurskommission des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche Beschwerde)
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Sachverhalt ab Seite 466

BGE 113 Ia 465 S. 466

B., geb. 1951, wohnte seit 1972 mit ihren Eltern bzw. - seit dem Tod des Vaters - mit ihrer Mutter in einem Einfamilienhaus in Binningen/BL, welches zu einem Viertel in ihrem Miteigentum steht. Beruflich war sie seit ihrer Lehrzeit als Zahnarztassistentin in der Praxis eines Zahnarztes in Basel tätig, der 1980 bereits 65 Jahre alt war und die Praxis 1985 auflöste. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln betrug der Arbeitsweg zwischen Binningen und Basel 20 bis 30 Minuten. Am 1. Oktober 1980 mietete B. eine Eineinhalbzimmerwohnung in unmittelbarer Nähe ihres Arbeitsortes, den sie von dort zu Fuss in knapp fünf Minuten erreichen konnte.
Seit dem 1. Oktober 1980 war B. in Basel als Wochenaufenthalterin gemeldet, was die Steuerbehörden für die Jahre 1980 und 1981 nicht beanstandeten. Hingegen wurde B. mit Verfügungen vom 29. August und vom 10. September 1984 für die Jahre 1982 und 1983 der Steuerpflicht des Kantons Basel-Stadt unterworfen. Einen Rekurs wies die Steuerrekurskommission des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom 1. Oktober 1986 ab. Gegen diesen Entscheid erhebt B. staatsrechtliche Beschwerde und rügt eine Verletzung von Art. 46 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 46 Umsetzung des Bundesrechts - 1 Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
1    Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
2    Bund und Kantone können miteinander vereinbaren, dass die Kantone bei der Umsetzung von Bundesrecht bestimmte Ziele erreichen und zu diesem Zweck Programme ausführen, die der Bund finanziell unterstützt.10
3    Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung.11
und von Art. 4 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV. Sie begründet ihren Standpunkt, im Kanton Basel-Stadt nicht steuerpflichtig zu sein, mit dem Fortbestand engerer Beziehungen zu Binningen/BL. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Grundsätzlich steht die Besteuerung des Einkommens unselbständig erwerbender Personen allein dem Kanton zu, in dem sie ihren Wohnsitz haben (BGE 111 Ia 42; BGE 104 Ia 266). Unter dem Wohnsitz ist dabei in der Regel der zivilrechtliche Wohnsitz zu verstehen, d.h. der Ort, wo sich der Steuerpflichtige mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält (Art. 23 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 23 - 1 Der Wohnsitz einer Person befindet sich an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz.23
1    Der Wohnsitz einer Person befindet sich an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz.23
2    Niemand kann an mehreren Orten zugleich seinen Wohnsitz haben.
3    Die geschäftliche Niederlassung wird von dieser Bestimmung nicht betroffen.
ZGB), wo sich der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen befindet (BGE 111 Ia 42; BGE 108 Ia 254 E. 3a mit Hinweisen). Der Mittelpunkt der Lebensinteressen bestimmt sich für die Steuerhoheit nach der Gesamtheit der objektiven, äusseren Umstände, aus denen sich diese Interessen erkennen lassen, nicht nach den bloss erklärten Wünschen des Steuerpflichtigen (BGE 108 Ia 255; BGE 97 II 3 /4 mit Hinweisen; ASA 49, 92).
BGE 113 Ia 465 S. 467

4. a) Der Aufenthalt der Beschwerdeführerin beschränkte sich in der fraglichen Zeit nicht auf einen Ort. Unter der Woche lebte sie an ihrem Arbeitsort in Basel, während sie an den Wochenenden angeblich zu ihrer Mutter nach Binningen/BL zurückkehrte. b) Das Bundesgericht hat anerkannt, dass auch bei Ledigen, die regelmässig das Wochenende, Feiertage und Ferien bei ihrer Familie, d.h. bei Eltern und Geschwistern verbringen, der Familienort Steuerdomizil sein kann, d.h. Mittelpunkt seiner persönlichen, familiären und affektiven Beziehungen (BGE 111 Ia 42 /3 mit Hinweisen). Dies gilt unter Umständen selbst dann, wenn er lediglich alle zwei Wochen an den Ort familiärer Bindungen zurückkehrt, denn bei diesem Erfordernis sind auch lange Reisezeiten und hohe Reisekosten angemessen zu berücksichtigen (BGE 111 Ia 43). c) Mit der genannten Rechtsprechung trägt das Bundesgericht der faktischen Entfernung von Arbeits- und Familienort insofern Rechnung, als es eine regelmässige und häufige Rückkehr um so mehr als Voraussetzung für die Anerkennung des Familienortes als Steuerdomizil verlangt, je geringer die Entfernung zwischen den beiden Orten ist. Sinkt die Entfernung - oder genauer der zeitliche und finanzielle Aufwand für die Zurücklegung des Weges - unter eine bestimmte Grenze, so kann nicht mehr gesagt werden, dass der Steuerpflichtige lediglich durch die Erwerbstätigkeit gezwungen wird, am Arbeitsort eine Wohnung zu mieten, die ihm während der Woche zur Verfügung steht. Tut er dies trotzdem, so dokumentiert er damit, dass seine Beziehungen zum Arbeitsort so eng geworden sind, dass er es vorzieht, dort während der Woche die Abende und die Freizeit zu verbringen, statt täglich an den Familienort zurückzukehren, obwohl ihm dies ohne grössere Kosten und zeitlichen Aufwand möglich wäre. Unter solchen Umständen lässt sich nicht mehr sagen, dass die Beziehungen zum Arbeitsort an Intensität hinter denjenigen zum Familienort zurückblieben, wie eng die familiären Beziehungen auch sein mögen.
d) Im vorliegenden Fall hätte die Beschwerdeführerin bei Benützung öffentlicher Verkehrsmittel von Binningen aus einen Arbeitsweg von je 20 bis 30 Minuten für die Hin- und Rückfahrt zurücklegen müssen. Es lässt sich daher im Ernst nicht behaupten, die Miete einer Wohnung in Basel habe sich der Beschwerdeführerin aus Gründen des Arbeitsverhältnisses aufgedrängt. Dies ergibt sich im übrigen schon daraus, dass die Beschwerdeführerin zuvor während vieler Jahre in Binningen gewohnt und in Basel gearbeitet hat. Der Bezug einer eigenen Wohnung ist daher im Zusammenhang
BGE 113 Ia 465 S. 468

mit ihren persönlichen Verhältnissen zu sehen, insbesondere mit ihrem im Alter von 30 Jahren zweifellos legitimen Wunsch nach Unabhängigkeit von der elterlichen Familie. Entsprechend hat die Beschwerdeführerin den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen nach Basel verlegt, wo sie ihn übrigens bis zum 21. Altersjahr schon vor der Übersiedlung nach Binningen hatte, und hat dort einen eigenen Wohnsitz begründet. e) Daran ändert nichts, dass bei Bezug der Wohnung in Basel die Auflösung der Zahnarztpraxis ihres Arbeitgebers und damit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses absehbar gewesen sein mag. Daraus folgt noch keineswegs, dass eine Verlegung des Arbeitsortes in einen andern Kanton wahrscheinlich gewesen wäre. Tatsächlich wohnt die Beschwerdeführerin - zwei Jahre nach Auflösung der Zahnarztpraxis - noch immer in Basel.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 113 IA 465
Datum : 20. November 1987
Publiziert : 31. Dezember 1987
Quelle : Bundesgericht
Status : 113 IA 465
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Art. 46 Abs. 2 BV; Doppelbesteuerungsverbot. Der ledige Steuerpflichtige, der in der Nähe des Familienortes eine eigene


Gesetzesregister
BV: 4 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
46
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 46 Umsetzung des Bundesrechts - 1 Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
1    Die Kantone setzen das Bundesrecht nach Massgabe von Verfassung und Gesetz um.
2    Bund und Kantone können miteinander vereinbaren, dass die Kantone bei der Umsetzung von Bundesrecht bestimmte Ziele erreichen und zu diesem Zweck Programme ausführen, die der Bund finanziell unterstützt.10
3    Der Bund belässt den Kantonen möglichst grosse Gestaltungsfreiheit und trägt den kantonalen Besonderheiten Rechnung.11
ZGB: 23
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 23 - 1 Der Wohnsitz einer Person befindet sich an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz.23
1    Der Wohnsitz einer Person befindet sich an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz.23
2    Niemand kann an mehreren Orten zugleich seinen Wohnsitz haben.
3    Die geschäftliche Niederlassung wird von dieser Bestimmung nicht betroffen.
BGE Register
104-IA-264 • 108-IA-252 • 111-IA-41 • 113-IA-465 • 97-II-1
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
basel-stadt • bundesgericht • zahnarztpraxis • staatsrechtliche beschwerde • arbeitsweg • familie • mutter • entscheid • basel-landschaft • reisekosten • distanz • gerichts- und verwaltungspraxis • voraussetzung • kantonales rechtsmittel • steuerhoheit • absicht dauernden verbleibens • miteigentum • persönliche verhältnisse • zahnarzt • betrug
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Zeitschrift ASA
ASA 49,92