112 V 115
19. Urteil vom 21. April 1986 i.S. W. gegen Krankenfürsorge Winterthur und Versicherungsgericht des Kantons Bern
Regeste (de):
- Art. 7 Abs. 1 KUVG: Freizügigkeit.
- - Gesetzliche Aufklärungspflicht der Krankenkasse bei Eintritt eines Freizügigkeitsgrundes (Erw. 2a).
- - Kommt eine Krankenkasse der Aufklärungspflicht nicht oder nicht rechtzeitig nach, so dass das Mitglied das Zügerrecht nicht innert der gesetzlichen Dreimonatsfrist ausüben kann, fällt der Freizügigkeitsanspruch dahin (Erw. 2b).
- Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
- - Anspruch auf eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung aufgrund des Vertrauensschutzes, wenn eine gesetzlich gebotene Aufklärung nicht erfolgt (Erw. 3).
- - Das aus Art. 3 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
Regeste (fr):
- Art. 7 al. 1 LAMA: Libre passage.
- - Obligation légale des caisses-maladie de renseigner leurs assurés quand survient un motif de libre passage (consid. 2a).
- - Si une caisse-maladie ne se conforme pas - ou pas en temps utile - à son obligation de renseigner et que l'assuré ne peut de ce fait exercer son droit au libre passage dans le délai légal de trois mois, ce droit devient caduc (consid. 2b).
- Art. 4 Cst.: Droit à la protection de la bonne foi.
- - Prétention à un avantage contraire à la loi et fondé sur la protection de la bonne foi lorsqu'un devoir légal d'informer n'a pas été respecté (consid. 3).
- - Le principe d'égalité de traitement entre les membres d'une caisse-maladie, découlant de l'art. 3 al. 3 LAMA, ne constitue pas une réglementation spéciale résultant directement et impérativement de la loi et qui exclut le droit à la protection de la bonne foi (consid. 4a-c).
Regesto (it):
- Art. 7 cpv. 1 LAMI: Libero passaggio.
- - Obbligo legale delle casse malati di informare quanto interviene un motivo di libero passaggio (consid. 2a).
- - Se una cassa malati non si adegua, o non si adegua tempestivamente, all'obbligo di informare e per questo fatto l'assicurato non può esercitare il diritto di libero passaggio nel termine legale di tre mesi, tale diritto decade (consid. 2b).
- Art. 4 Cost.: Protezione della buona fede.
- - Pretesa ad un trattamento in deroga alla legge sulla base della protezione della buona fede, se un'informazione imposta legalmente non ha luogo (consid. 3).
- - Il principio di parità di trattamento dei membri di una cassa, derivato dall'art. 3 cpv. 3 LAMI, non costituisce una regola speciale direttamente deducibile dalla legge che esclude il richiamo alla tutela della buona fede (consid. 4a-c).
Sachverhalt ab Seite 116
BGE 112 V 115 S. 116
A.- Adelheid und Pierre W. waren als Angestellte der Firma Omega S.A. seit 1979 zusammen mit ihren Kindern dem Krankenversicherungs-Kollektivvertrag angeschlossen, welchen die Caisse-maladie des Usines Omega-La Centrale-Aloxyd (nachfolgend: Krankenkasse Omega) am 23. Februar 1973 mit der Krankenkasse
BGE 112 V 115 S. 117
La Jurassienne abgeschlossen hatte. Der Versicherungsschutz der Adelheid W. umfasste eine Krankenpflege-Grundversicherung, eine Spitalbehandlungskosten-Zusatzversicherung im Betrag von Fr. 50'000.-- und ein Krankentaggeld ab dem 91. Tag von Fr. 70.--, wobei ihre Monatsprämie ab 1. Januar 1982 Fr. 87.70 betrug. Auf Ende 1982 kam es zur Auflösung und Fusion der Krankenkasse La Jurassienne mit der Krankenfürsorge Winterthur (KFW). Diese erklärte sich im Sinne einer Übergangsregelung bereit, den Kollektivversicherungsvertrag mit der Krankenkasse Omega zu den bisherigen Bedingungen bis Ende März 1983 weiterzuführen. Die eingeleiteten Verhandlungen über den Abschluss eines neuen Kollektivversicherungsvertrages scheiterten, weil keine Einigung über die Höhe der Prämien erzielt werden konnte. Daher teilte die KFW der Krankenkasse Omega am 9. Mai 1983 mit, sie werde deren Mitglieder mit Wirkung ab 1. April 1983 in die Einzelversicherung umteilen, um ihnen weiterhin einen Versicherungsschutz gewähren zu können. So verfuhr die KFW auch mit Pierre W. und dessen Familie. Adelheid W. ist seither im Rahmen einer solchen Einzelversicherung bei der KFW für Krankenpflege (Grundleistungen inkl. obligatorischer Spitalzusatz), für zusätzliche Kosten auf der halbprivaten Spitalabteilung (kombinierte Spitalzusatzversicherung GK 4) und für ein Taggeld von Fr. 70.-- nach zwei Monaten versichert; die monatliche Prämie hiefür betrug für sie ab 1. April 1983 Fr. 243.50 und ab anfangs 1984 Fr. 253.90, wobei sich die Krankenkasse Omega bereit erklärt hatte, die Prämienerhöhungen für die Monate April bis Juni 1983 noch zu übernehmen. Mit Schreiben vom 5. Juli 1983 machte Pierre W. gegenüber der KFW geltend, mangels Aufklärung über die Fusion der Krankenkasse La Jurassienne mit der KFW hätten er und seine Familie den dabei entstandenen Anspruch auf Freizügigkeit nicht ausnützen können. Dies wirke sich nun nachteilig aus, weil die Prämien der KFW wesentlich über denjenigen anderer Kassen liegen würden. Er verlange deshalb die Vergütung der entsprechenden Prämiendifferenz. Dieses Begehren lehnte die KFW mit Brief vom 26. Juli 1983 ab. Pierre W. trat in der Folge mit seinen beiden Kindern aus der KFW aus, hielt jedoch in bezug auf die aus Gesundheitsgründen bei dieser Kasse verbliebene Ehefrau an seinem Antrag auf Vergütung der Prämiendifferenz fest. Da keine Einigung zustande kam, teilte die KFW Pierre W. am 21. Mai 1984 verfügungsweise mit, der Anspruch auf Freizügigkeit sei am 31. März 1983 abgelaufen;
BGE 112 V 115 S. 118
auch sei sie nicht bereit, einen Teil der Prämie der Adelheid W. zu erlassen.
B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies die hiegegen erhobene Beschwerde nach Durchführung eines Beweisverfahrens mit Entscheid vom 20. November 1984 ab.
C.- Adelheid W. lässt durch ihren Ehemann Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den Anträgen, die KFW sei zu verpflichten, ihr rückwirkend die monatlichen Prämiendifferenzen von Fr. 147.80 zu Fr. 253.90 (seit 1. Juli 1983 bis Ende 1984) und von Fr. 147.80 zu Fr. 219.80 (ab anfangs 1985) zu erstatten; ferner sei die KFW anzuweisen, ihre Prämie zeitlich unbeschränkt auf Fr. 147.80 herabzusetzen; schliesslich sei das vorliegende Urteil allen früheren kollektivversicherten Mitgliedern der Krankenkasse Omega zu eröffnen.
Die KFW und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) beantragen Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Erwägungen
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. (Beschränkte Kognition.)
2. a) Gemäss Art. 5bis Abs. 4
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BGE 112 V 115 S. 119
auch anhand des amtlichen Kassenverzeichnisses die Namen der anerkannten Krankenkassen bekanntzugeben, die für den Übertritt in Betracht fallen können (Art. 12 Abs. 1 Vo III, SR 832.140). Des weitern hat die Krankenkasse unaufgefordert den für die Geltendmachung der Freizügigkeit erforderlichen Mitgliedschaftsausweis auszustellen (Art. 6 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Vo III). Gelangt ein Versicherter infolge Verschuldens seiner Kasse länger als drei Monate nicht in den Besitz des Mitgliedschaftsausweises, so dass der Freizügigkeitsanspruch gemäss Art. 10 Abs. 1
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3. a) Der Grundsatz von Treu und Glauben schützt den Bürger in seinem berechtigten Vertrauen auf behördliches Verhalten und bedeutet u.a., dass falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtsuchenden gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist eine falsche Auskunft bindend,
BGE 112 V 115 S. 120
1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte Personen gehandelt hat; 2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn der Bürger die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte; 3. wenn der Bürger die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte; 4. wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können; 5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunfterteilung keine Änderung erfahren hat (BGE 110 V 155 Erw. 4b mit Hinweis).
b) In sinngemässer Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Tatbestand einer - entgegen gesetzlicher Verpflichtung (Erw. 2a) - nicht erteilten Auskunft ergibt sich, dass die fünf Voraussetzungen erfüllt sind: Die KFW, welche sich das Verhalten der aufgelösten und mit ihr fusionierten Krankenkasse La Jurassienne anrechnen lassen muss, hat die Beschwerdeführerin entgegen der klaren gesetzlichen Verpflichtung nicht rechtzeitig über den Freizügigkeitsgrund und die daraus sich ergebenden Ansprüche orientiert (Ziff. 1 und 2). Sodann konnte die Beschwerdeführerin im massgeblichen Zeitraum den Freizügigkeitsgrund und die damit verbundenen Rechte nicht erkennen, weil sie aufgrund des Zirkularschreibens vom 5. Januar 1983 - für welches noch die Krankenkasse La Jurassienne verantwortlich zeichnete - auf eine Fortsetzung des Kollektivversicherungsvertrages mit der KFW vertrauen durfte (Ziff. 3). Ferner steht nach der Aktenlage fest und wird von der KFW nicht bestritten, dass die Beschwerdeführerin bei rechtzeitiger Ausübung des Zügerrechts in die Christlichsoziale Kranken- und Unfallkasse der Schweiz (CKUS) hätte eintreten können, wo ihr während längerer Zeit eine erheblich tiefere Prämienbelastung entstanden wäre (ab 1. Juli 1983 Fr. 155.60; ab 1. Januar 1984 Fr. 178.40; ab 1. Juli 1984 Fr. 200.40). Unter diesen Umständen hätte die Beschwerdeführerin wahrscheinlich bei rechtzeitiger Aufklärung von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht, weil ihr andernfalls wegen ihres Herzleidens bei der Bewerbung um Aufnahme in eine andere Krankenkasse ein Versicherungsvorbehalt drohte (Art. 5 Abs. 3
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BGE 112 V 115 S. 121
4. a) Die Vorinstanz hat erwogen, selbst wenn die KFW wider Treu und Glauben gehandelt haben sollte, könne die Beschwerdeführerin aus diesem Verhalten keinen Anspruch auf eine Prämienreduktion ableiten. Denn das Vertrauensprinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz trete gegenüber einer Sonderregelung, die sich unmittelbar und zwingend aus dem Gesetz selber ergebe, zurück. Dies treffe in bezug auf das Gebot der rechtsgleichen Behandlung aller Versicherten zu, weil dieser Grundsatz unmittelbar aus Art. 3 Abs. 3
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b) Im Schreiben vom 26. Juli 1983 erläuterte die KFW gegenüber dem Ehemann der Beschwerdeführerin die Höhe der für die Einzelversicherten geltenden Prämien. Die Kasse führte dort unter Bezugnahme auf den Fusionsvertrag aus, die bei ihr nun einzelversicherten Mitglieder der ehemaligen Krankenkasse La Jurassienne müssten "als geschlossene Prämieneinheit" behandelt werden; die "Prämienpolitik" sei in der Weise zu betreiben, "dass voraussichtlich keine oder nur geringe Reservemittel von den bisherigen KFW-Versicherten aufgebracht werden müssen"; vor diesem Hintergrund sei es nicht zu verantworten, Versicherte aus Kassen, die mangels Aktiven zur Fusion gezwungen worden seien, "uneingeschränkt vom Vermögen des alten versicherten Bestandes profitieren zu lassen"; korrekt sei, "eine Sanierung soweit als möglich in jenem Bestand vorzunehmen, der auch jahrelang durch sachlich unbegründet tiefe Prämien profitiert" habe. Die Beschwerdeführerin bezahlte dementsprechend in der Folge höhere Prämien als die andern bei der KFW zu den gleichen Leistungen Versicherten. Erst im Dezember 1984 informierte die KFW die ehemals bei der Krankenkasse La Jurassienne versicherten und nun der gleichnamigen KFW-Agentur angeschlossenen Mitglieder, sie werde nach zwei Übergangsjahren ("après deux années de transition") den normalen Tarif der KFW ("le tarif normal de la KFW") anwenden, was im Falle der Beschwerdeführerin eine Ermässigung der Monatsprämie von Fr. 253.90 auf Fr. 219.80 zur Folge hatte. Von einer Gleichbehandlung der Beschwerdeführerin mit den andern Kassenmitgliedern, wie das kantonale Gericht meint, kann bei dieser Sachlage von vornherein nicht die Rede sein. c) Im weitern trifft es zwar zu, dass das Eidg. Versicherungsgericht den Voraussetzungen, unter denen die Berufung auf den Vertrauensschutz begründet ist (BGE 110 V 155 Erw. 4b), beigefügt hat, dass keine unmittelbar und zwingend aus dem Gesetz sich ergebende Sonderregelung vorliegen darf, vor welcher das Vertrauensprinzip
BGE 112 V 115 S. 122
als allgemeiner Rechtsgrundsatz zurücktreten muss (BGE 106 V 143 Erw. 3 in fine mit Hinweisen; ZAK 1983 S. 389 Erw. 1 in fine). Doch kann der Gleichheitsgrundsatz keinesfalls als unmittelbar und zwingend aus dem Gesetz sich ergebende Sonderregelung im Sinne dieser Rechtsprechung betrachtet werden, dies auch dann nicht, wenn das Gleichbehandlungsgebot in einer gesetzlichen Bestimmung konkretisiert ist bzw. - wie im Falle des Art. 3 Abs. 3
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BGE 112 V 115 S. 123
d) Nach dem Gesagten bleibt zu prüfen, ob eine besondere formellgesetzliche Bestimmung des Krankenversicherungsrechts vorliegend die Berufung auf Treu und Glauben ausschliesst. Gemäss Art. 9 Abs. 3
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BGE 112 V 115 S. 124
5. Wie bereits dargelegt, hätte die Beschwerdeführerin bei rechtzeitiger Ausübung des Zügerrechts in die CKUS eintreten können, wo sie ab 1. Juli 1983 Fr. 155.60, ab anfangs Januar 1984 Fr. 178.40 und ab 1. Juli 1984 Fr. 200.40 an Prämien für entsprechende Leistungen bezahlt hätte. Die Differenzen zu den in der KFW bezahlten Beiträgen hat diese nach dem Gesagten zu übernehmen. Was die Dauer dieser Vergütung anbelangt, trifft der Einwand der KFW zu, dass ihr eine solche Verpflichtung höchstens so lange auferlegt werden darf, als der Beschwerdeführerin beim Eintritt in die CKUS mangels Freizügigkeit während der Vorbehaltsdauer von fünf Jahren (Art. 5 Abs. 3
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6. Da es im vorliegenden Prozess nicht um Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren nicht kostenfrei (Art. 134
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7. Die Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts sind der Vorinstanz, den Parteien und allfälligen anderen Beteiligten (Art. 110 Abs. 1
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BGE 112 V 115 S. 125
Dispositiv
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 20. November 1984 und die Kassenverfügung vom 21. Mai 1984 aufgehoben, und es wird die Krankenfürsorge Winterthur verpflichtet, der Beschwerdeführerin den Betrag von Fr. 1'301.40 zu bezahlen. II. Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin zu einem Viertel und der KFW zu drei Vierteln auferlegt.