112 IV 115
35. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. August 1986 i.S. F. und C. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 23 Abs. 1 ANAG, Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens; Art. 96 OG, Art. 269 BStP, Art. 73
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 73 - Die Beschwerde an den Bundesrat ist zulässig gegen Verfügungen:
a der Departemente und der Bundeskanzlei; b letzter Instanzen autonomer Anstalten und Betriebe des Bundes; c letzter kantonaler Instanzen. - 1. In einem Strafverfahren wegen illegaler Einreise in die Schweiz ist die Rüge, dass eine Verurteilung wegen rechtswidrigen Betretens des Landes gegen Bestimmungen des Flüchtlingsabkommens verstosse, nicht mit der Beschwerde an den Bundesrat, sondern mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht zu erheben (E. 1).
- 2. Der Richter kann in einem Strafverfahren selber vorfrageweise über die für die strafrechtliche Beurteilung einer bestimmten Handlung wesentliche Frage der Flüchtlingseigenschaft des Angeschuldigten entscheiden, wenn die Asylbehörden darüber noch nicht befunden haben (E. 4a).
Regeste (fr):
- Art. 23 al. 1 LSEE, art. 31 ch. 1 de la Convention relative au statut des réfugiés; art. 96 OG, art. 269 PPF, art. 73 PA.
- 1. Dans une procédure pénale ouverte pour entrée illégale en Suisse, le grief selon lequel une condamnation pour entrée illicite violerait la convention relative au statut des réfugiés ne doit pas faire l'objet d'un recours au Conseil fédéral, mais d'un pourvoi en nullité à la Cour de cassation du Tribunal fédéral (consid. 1).
- 2. Dans le cadre d'une procédure pénale, le juge peut lui-même statuer préjudiciellement sur la question de la qualité de réfugié de l'accusé, qui est essentielle pour qualifier pénalement un comportement donné, pour autant que les autorités compétentes en matière d'asile ne se soient pas encore prononcées (consid. 4a).
Regesto (it):
- Art. 23 cpv. 1 LDDS, art. 31 n. 1 della Convenzione sullo statuto dei rifugiati; art. 96 OG, art. 269 PP, art. 73 PA.
- 1. In un procedimento penale aperto per entrata illegale in Svizzera, la censura secondo cui una condanna per entrata illegale violerebbe disposizioni della Convenzione sullo statuto dei rifugiati non va sollevata con ricorso al Consiglio federale, bensì con ricorso per cassazione al Tribunale federale (consid. 1).
- 2. Nel quadro di un procedimento penale, il giudice può decidere direttamente, a titolo pregiudiziale, sulla questione della qualità di rifugiato dell'imputato, essenziale per valutare penalmente un determinato atto, sempreché le autorità competenti in materia di asilo non si siano ancora pronunciate (consid. 4a).
Sachverhalt ab Seite 116
BGE 112 IV 115 S. 116
A.- Am 7. März 1985 kontrollierten Beamte der Kantonspolizei St. Gallen in Murg einen Personenwagen mit Mailänder Kontrollschildern. Im Fahrzeug sassen zwei italienische und fünf türkische Staatsangehörige. Die türkischen Staatsangehörigen, die einige Stunden zuvor heimlich in die Schweiz eingereist waren und keine Visa vorweisen konnten, wurden wegen des Verdachts des widerrechtlichen Betretens des Landes in Untersuchungshaft genommen und später, mit Ausnahme von F. und C., die am 13. März 1985 ein Asylgesuch stellten, nach Istanbul ausgeschafft.
B.- Am 2. Juli 1985 verurteilte die Gerichtskommission Sargans F. und C. wegen rechtswidrigen Betretens des Landes gemäss Art. 23 Abs. 1 ANAG zu bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafen von acht Tagen, unter Anrechnung der Untersuchungshaft von acht Tagen. Das Kantonsgericht St. Gallen wies die von den beiden Verurteilten dagegen erhobene Berufung am 3. Februar 1986 ab.
C.- Die Verurteilten fechten den Entscheid des St. Galler Kantonsgerichts entgegen der darin enthaltenen Rechtsmittelbelehrung nicht mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde, sondern, unter Hinweis auf Art. 73 Abs. 1 lit. b
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz VwVG Art. 73 - Die Beschwerde an den Bundesrat ist zulässig gegen Verfügungen: |
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a | der Departemente und der Bundeskanzlei; |
b | letzter Instanzen autonomer Anstalten und Betriebe des Bundes; |
c | letzter kantonaler Instanzen. |
BGE 112 IV 115 S. 117
ANAG verstosse gegen Art. 31 Ziff. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951. Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragt unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1. Das Bundesamt für Justiz vertrat in einem von ihm im Auftrag des EJPD am 12. Mai 1986 eröffneten Meinungsaustausch die Auffassung, der Einwand, dass eine Verurteilung wegen rechtswidrigen Betretens des Landes gegen Art. 31 Ziff. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge verstosse, sei nicht mit der Beschwerde an den Bundesrat, sondern mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts zu erheben. Der Kassationshof schloss sich dieser Auffassung in einem Schreiben vom 29. Mai 1986 an.
Die in der Beschwerdeschrift erwähnten BGE 101 IV 375 und VPB 1985 Nr. 1 betrafen Fälle der richterlichen Landesverweisung gemäss Art. 55
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 55 - 1 Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
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1 | Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
2 | Als zuständige Behörden nach den Artikeln 52, 53 und 54 bezeichnen die Kantone Organe der Strafrechtspflege. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 55 - 1 Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
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1 | Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
2 | Als zuständige Behörden nach den Artikeln 52, 53 und 54 bezeichnen die Kantone Organe der Strafrechtspflege. |
BGE 112 IV 115 S. 118
Bestrafung ausgeschlossen ist. Die Frage der Anwendbarkeit von Art. 31 Ziff. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 55 - 1 Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
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1 | Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
2 | Als zuständige Behörden nach den Artikeln 52, 53 und 54 bezeichnen die Kantone Organe der Strafrechtspflege. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 55 - 1 Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
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1 | Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
2 | Als zuständige Behörden nach den Artikeln 52, 53 und 54 bezeichnen die Kantone Organe der Strafrechtspflege. |
2. Wer rechtswidrig die Schweiz betritt oder darin verweilt, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft. Mit dieser Strafe kann Busse bis zu 10'000 Franken verbunden werden; in leichten Fällen kann auch nur auf Busse erkannt werden (Art. 23 Abs. 1 ANAG). In die Schweiz Geflüchtete sind straflos, wenn die Art und Schwere der Verfolgung den rechtswidrigen Grenzübertritt rechtfertigen (Art. 23 Abs. 2
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 55 - 1 Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
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1 | Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
2 | Als zuständige Behörden nach den Artikeln 52, 53 und 54 bezeichnen die Kantone Organe der Strafrechtspflege. |
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 55 - 1 Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
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1 | Das Gericht sieht bei der bedingten Strafe vom Widerruf und bei der bedingten Entlassung von der Rückversetzung ab, wenn die Voraussetzungen der Strafbefreiung gegeben sind. |
2 | Als zuständige Behörden nach den Artikeln 52, 53 und 54 bezeichnen die Kantone Organe der Strafrechtspflege. |
Die vertragschliessenden Staaten ergreifen wegen illegaler Einreise oder unrechtmässigen Aufenthalts keine Strafmassnahmen gegen Flüchtlinge, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, wo ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht war und sofern sie sich unverzüglich den Behörden stellen und triftige Gründe für ihre illegale Einreise oder Anwesenheit darlegen. Nach Auffassung der Vorinstanz sind mehrere der in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen für den Ausschluss einer strafrechtlichen Verfolgung wegen illegalen Grenzübertritts vorliegend nicht erfüllt. Die Beschwerdeführer können gemäss den Ausführungen im angefochtenen Urteil nicht als Flüchtlinge im Sinne des Flüchtlingsabkommens betrachtet werden, vermochten zudem keine triftigen Gründe für die illegale Einreise darzulegen und stellten sich schliesslich nach der Einreise nicht unverzüglich den Behörden.
3. Das Kantonsgericht legte unter Berufung auf die Aussagen der Beschwerdeführer im Strafverfahren ausführlich dar, weshalb
BGE 112 IV 115 S. 119
diese mit Rücksicht auf ihre Beweggründe für die Einreise in die Schweiz und ihre Situation in der Türkei nicht als Flüchtlinge im Sinne des Flüchtlingsabkommens bezeichnet werden können. Die Beschwerdeführer behaupten zwar, das Kantonsgericht habe ihre Flüchtlingseigenschaft zu Unrecht verneint, sie legen aber überhaupt nicht dar, inwiefern die diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Entscheid in der Sache verfehlt seien. Auf die Beschwerde ist daher insoweit mangels hinreichender Begründung nicht einzutreten.
4. Die Beschwerdeführer machen geltend, die kantonalen Gerichte hätten das Strafverfahren wegen rechtswidrigen Betretens des Landes bis zum Asylentscheid der zuständigen Behörden aussetzen müssen oder, wenn sie vorweg selber im Strafverfahren die Flüchtlingseigenschaft beurteilten, die Akten des vor erster Instanz hängigen Asylverfahrens beiziehen müssen. Diese Einwände sind unbegründet. a) Der Ausländer, dem die Schweiz Asyl gewährt hat, gilt gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtling im Sinne dieses Gesetzes sowie des Flüchtlingsabkommens (Art. 25
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG) AsylG Art. 25 |
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG) AsylG Art. 11 Beweisverfahren - Wird zur Ermittlung des Sachverhaltes ein Beweisverfahren durchgeführt, so können Asylsuchende zur Beweisanordnung der Behörde nicht vorgängig Stellung nehmen. |
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG) AsylG Art. 25 |
BGE 112 IV 115 S. 120
in der Beschwerdeschrift wurde das Asylgesuch des Beschwerdeführers F. am 20. März 1986 von der ersten Instanz abgewiesen und war das Asylgesuch des Beschwerdeführers C. zur Zeit der Einreichung des vorliegenden Rechtsmittels noch vor der ersten Instanz hängig. Das Kantonsgericht durfte somit die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführer im Strafverfahren vorfrageweise selber beurteilen. Die Pflicht zur Sistierung des Strafverfahrens bis zum Abschluss des hängigen Asylverfahrens kann auch nicht aus dem in Art. 33 des Flüchtlingsabkommens festgelegten Grundsatz des "non-refoulement" abgeleitet werden. Dieser schon für die Dauer des Asylverfahrens geltende Grundsatz betrifft die Frage, ob und wohin eine Person ausgeschafft werden kann. Er steht der Bestrafung eines Asylbewerbers wegen rechtswidrigen Betretens der Schweiz nicht entgegen. Eine Person kann selbst im Falle der Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 23 Abs. 1 ANAG verurteilt werden, wenn eine der übrigen, in Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens genannten Voraussetzungen nicht erfüllt ist. Wohl führte der Kassationshof in BGE 111 IV 14, auf den sich die Beschwerdeführer ebenfalls berufen, aus, es erscheine "aus prinzipiellen und aus praktischen Gründen [...] weder notwendig noch zweckmässig, dass der Strafrichter sich mit der ihm nicht vertrauten Problematik des Asyl- und Flüchtlingsrechts auseinandersetzt". Damit wollte er aber, wie sich aus den übrigen Erwägungen in jenem Entscheid ergibt, lediglich zum Ausdruck bringen, dass der Strafrichter sich nicht mit flüchtlingsrechtlichen Fragen auseinandersetzen soll, wo dies nicht notwendig ist. So sind nach dem zitierten Urteil Einwände aus dem Asylrecht nicht schon vom Strafrichter bei der Ausfällung der Nebenstrafe der Landesverweisung, sondern erst von der zuständigen Behörde beim Vollzug der Landesverweisung zu berücksichtigen, da sie erst in diesem Stadium echte Vorfragen sind. Wo aber die Beantwortung der Frage der Flüchtlingseigenschaft des Angeschuldigten wie im vorliegenden Fall für die strafrechtliche Verfolgung einer bestimmten Handlung unerlässlich ist, muss sich der Strafrichter mit ihr befassen. Dass er mit den Problemen des Flüchtlingsrechts weniger vertraut ist als die zur Beurteilung der Asylgesuche zuständigen Behörden und dass zudem die Gefahr von Widersprüchen zu deren späteren Entscheiden besteht, ist kein Grund für die Sistierung des Strafprozesses bis zum Abschluss des Asylverfahrens, welches erfahrungsgemäss lange Zeit dauern kann. Der Strafrichter hat sich
BGE 112 IV 115 S. 121
nicht selten mit Vorfragen aus den Gebieten des Zivilrechts, des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts oder des Verwaltungsrechts zu befassen. Ebenso kann er in einem Strafverfahren wegen rechtswidrigen Betretens des Landes bei Fehlen eines positiven Asylentscheides der zuständigen Behörden vorfrageweise prüfen, ob der Angeschuldigte allenfalls wegen seiner Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 31 Ziff. 1 des Flüchtlingsabkommens nicht strafrechtlich verfolgt werden darf.