112 Ib 473
74. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19. Dezember 1986 i.S. A. gegen Fremdenpolizei und Regierungsrat des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 9 Abs. 4 lit. a
ANAG; Widerruf einer Niederlassungsbewilligung, die die Ehefrau eines niedergelassenen Ausländers gestützt auf Art. 17 Abs. 2
ANAG erworben hat.
- Der Widerruf gemäss Art. 9 Abs. 4 lit. a
ANAG setzt voraus, dass die Bewilligungsbehörde absichtlich getäuscht worden ist (E. 3a und b). Für den Widerruf der aufgrund von Art. 17 Abs. 2
ANAG erworbenen Niederlassungsbewilligung der Ehefrau genügt es, wenn bloss der Ehemann täuschende Angaben gemacht hat (E. 3c und d).
- Die Niederlassungsbewilligung kann nicht in jedem Fall widerrufen werden, wenn die Bedingungen von Art. 9 Abs. 4 lit. a
ANAG erfüllt sind; die Behörde hat nach pflichtgemässem Ermessen zu entscheiden (E. 4). In casu ist das Ermessen nicht pflichtgemäss ausgeübt worden (E. 5).
Regeste (fr):
- Art. 9 al. 4 let. a LSEE; révocation d'une autorisation d'établissement délivrée en application de l'art. 17 al. 2 LSEE à l'épouse d'un étranger établi en Suisse.
- La révocation au sens de l'art. 9 al. 4 let. a LSEE suppose que l'autorité habilitée à accorder l'autorisation a été trompée intentionnellement (consid. 3a et b). Pour révoquer une autorisation obtenue en vertu de l'art. 17 al. 2 LSEE, il suffit que le mari ait seul fait des déclarations trompeuses (consid. 3c et d).
- L'autorité ne peut pas révoquer le permis chaque fois que les conditions prévues par l'art. 9 al. 4 let. a LSEE sont remplies; elle doit exercer correctement son pouvoir d'appréciation (consid. 4). Tel n'a pas été le cas en l'espèce (consid. 5).
Regesto (it):
- Art. 9 cpv. 4 lett. a LDDS; revoca di un permesso di domicilio rilasciato in applicazione dell'art. 17 cpv. 2 LDDS alla moglie di uno straniero domiciliato in Svizzera.
- La revoca ai sensi dell'art. 9 cpv. 4 lett. a LDDS presuppone che l'autorità competente a rilasciare il permesso sia stata tratta in inganno intenzionalmente (consid. 3a, b). Per revocare un permesso ottenuto in virtù dell'art. 17 cpv. 2 LDDS è sufficiente che il solo marito abbia fornito indicazioni fallaci (consid. 3c, d).
- L'autorità non può revocare il permesso ogni qual volta siano adempiute le condizioni previste dall'art. 9 cpv. 4 lett. a LDDS; essa deve esercitare correttamente il proprio potere d'apprezzamento (consid. 4). Ciò non è avvenuto nella fattispecie (consid. 5).
Sachverhalt ab Seite 474
BGE 112 Ib 473 S. 474
Die türkische Staatsangehörige A. ist seit 1963 mit dem heute im Kanton Zürich niedergelassenen türkischen Staatsangehörigen B. verheiratet. In den Jahren 1972 und 1973 weilte sie während mehrerer Monate in der Schweiz bei ihrem Ehemann, kehrte danach aber wieder in die Türkei zurück. Am 19. August 1983 stellte B. ein Gesuch, es sei seiner Frau und seiner Tochter C. die Einreise in die Schweiz zu bewilligen; der gemeinsame Sohn D. weilt bereits seit 1981 bei seinem Vater im Kanton Zürich und hat hier die Niederlassungsbewilligung. Nachdem A. am 28. Oktober 1983 eingereist war, stellte sie am 15. November 1983 ein Gesuch um Niederlassungsbewilligung, indem sie ein entsprechendes, vom Ehemann ausgefülltes Formular bei der Gemeinde Dietikon einreichte. Als Zweck ihres Aufenthalts wurde angegeben: "Hausfrau, Verbleib beim Gatten...". Am 23. November 1983 erteilte ihr die Fremdenpolizei des Kantons Zürich die Niederlassungsbewilligung. Nachdem sich A. im August 1984 in einem Brief an die Fremdenpolizei des Kantons Zürich über das Verhalten ihres Ehemannes beklagt hatte, ergaben Nachforschungen, dass überhaupt nie ein gemeinsamer Haushalt aufgenommen worden war, sondern dass vielmehr der Ehemann seit Jahren in einem Konkubinatsverhältnis mit seiner türkischen Freundin, einer Cousine, lebte. Mit Verfügung vom 1. Februar 1985 widerrief daher die Fremdenpolizei die Niederlassungsbewilligung von A. Einen dagegen erhobenen Rekurs wies der Regierungsrat des Kantons Zürich mit Beschluss vom 4. Juni 1986 ab. Hiegegen erhob A. am 28. Juli 1986 Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Gemäss Art. 17 Abs. 2
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BGE 112 Ib 473 S. 475
nur einen Anspruch auf die Erteilung einer solchen. Daher ist stets ein Bewilligungsverfahren erforderlich, nicht nur der Form halber, sondern weil die Behörde das Vorliegen aller Erfordernisse prüfen muss (M. RUTH, Fremden-Polizeirecht der Schweiz, Zürich 1934, S. 70). Wegen des durch Art. 17 Abs. 2
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3. a) Die Zürcher Behörden haben die Niederlassungsbewilligung der Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 9 Abs. 4 lit. a
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b) Der Wortlaut der fraglichen Widerrufsbestimmung lässt keinen Zweifel daran, dass ein Widerruf nur zulässig sein kann, wenn die Bewilligungsbehörde mit Absicht getäuscht worden ist. Zwar wird nur für das Verschweigen wesentlicher Tatsachen verlangt, dass dies wissentlich geschehe; damit sollte (wohl) ein Widerruf der
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Bewilligung für den Fall ausgeschlossen werden, dass aus Unachtsamkeit wesentliche Tatsachen verschwiegen worden sind. Dass auch konkrete Falschangaben bewusst und in Täuschungsabsicht gemacht worden sein müssen, ergibt sich daraus, dass Widerrufsvoraussetzung das Erschleichen der Niederlassungsbewilligung ist: Dieser Ausdruck lässt keine andere Auslegung zu (so auch der Berichterstatter der nationalrätlichen Kommission anlässlich der Beratung am 25. September 1930, Sten.Bull. NR 1930 S. 608, 1. Spalte zweitletzter Absatz; vgl. auch BGE 102 Ib 99 E. 3 hinsichtlich der gleichlautenden Bestimmung von Art. 9 Abs. 2 lit. a
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BGE 112 Ib 473 S. 477
Niederlassungsbewilligung an die Ausländerin, da sie regelmässig - wie im vorliegenden Fall die Beschwerdeführerin - zum Zeitpunkt der Bewilligungserteilung sonst keine näheren Verbindungen zur Schweiz hat. Bezeichnend ist denn auch, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin, die sich hier nicht auskannte, vorerst das Gesuch um Einreisebewilligung für sie stellte und auch das Gesuch um Niederlassungsbewilligung ausfüllte, das die Beschwerdeführerin bloss selber unterschrieb. War für die Bewilligungserteilung die Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihrem hier niedergelassenen Ehemann massgebend bzw. konnte sie nur durch ihn zur Niederlassungsbewilligung kommen, so spricht dies dafür, dass sein Verhalten anlässlich des Bewilligungsverfahrens ihr zugerechnet wird. Sie muss sich dies jedenfalls dann gefallen lassen, wenn sie - für die zuständige Behörde erkennbar - auch das Gesuchsformular durch ihren Ehemann ausfüllen liess. Es ginge nicht an, dass die Behörde zwar die offensichtlich allein vom Ehemann abgegebene Begründung für die Gewährung der Niederlassungsbewilligung zu Gunsten der Gesuchstellerin entgegenzunehmen und gestützt darauf die Bewilligung zu erteilen hätte, es ihr andererseits aber verwehrt sein sollte, zu Ungunsten der Ausländerin auf das Verhalten des Ehemannes abzustellen. Damit ist davon auszugehen, dass die Zürcher Behörden zu Recht angenommen haben, angesichts der täuschenden Angaben des Ehemannes sei gegenüber der Beschwerdeführerin der Widerrufsgrund von Art. 9 Abs. 4 lit. a
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4. Die Beschwerdeführerin vertritt die Ansicht, dass die Niederlassungsbewilligung nicht in jedem Fall zu widerrufen sei, wenn die Bewilligung erschlichen worden ist; vielmehr gelte, dass die Bewilligung widerrufen werden könne, jedoch nicht müsse. Art. 9 Abs. 4
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BGE 112 Ib 473 S. 478
deutsche Wort "kann" der Behörde zwingend einen Ermessensspielraum belässt, darf allein aus der französischen Redaktion geschlossen werden, der Gesetzgeber habe jegliches Ermessen von vornherein ausschliessen wollen. Für den Widerruf der Aufenthaltsbewilligung verwendet auch der französische Text das Wort "peut". Dafür, dass der Gesetzgeber in dieser Hinsicht einen Unterschied zwischen der Aufenthalts- und der Niederlassungsbewilligung machen wollte, gibt es keine Anhaltspunkte. Der bundesrätliche Entwurf vom 8. März 1948 zur Änderung des ANAG, die am 8. Oktober 1948 beschlossen wurde und seit 21. März 1949 in Kraft ist, verwies für den Widerruf der Niederlassungsbewilligung wegen Erschleichens der Bewilligung auf die entsprechende Regelung für die Aufenthaltsbewilligung (Art. 9 Abs. 3 1. Satz des bundesrätlichen Entwurfs). In der parlamentarischen Beratung wurden Art. 9 Abs. 3 und 4 durch die ständerätliche Kommission neu formuliert, ohne dass aber hinsichtlich dieses Widerrufsgrundes eine Sinnänderung angestrebt wurde (vgl. Botschaft des Bundesrats vom 8. März 1948, BBl 1948 I 1305; Sten.Bull. NR 1948 S. 229 ff., 239, 525 f.; Sten.Bull. NR 1948 S. 303 ff., bes. 308/9). Ob der Behörde beim Widerruf der Niederlassungsbewilligung ein Ermessensspielraum zukommt, kann daher nicht aus dem Wortlaut der Bestimmung geschlossen werden. Art. 9 Abs. 3
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BGE 112 Ib 473 S. 479
tragen können, ohne von vornherein zum Widerruf der Bewilligung verpflichtet zu sein.
5. a) Steht den kantonalen Behörden ein Ermessensspielraum zu, kann das Bundesgericht die Angemessenheit des getroffenen Entscheids nicht überprüfen, sondern es kann den angefochtenen Entscheid nur wegen Überschreitung oder Missbrauchs des Ermessens aufheben (Art. 104 lit. a
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BGE 112 Ib 473 S. 480
leichter zu einer Scheidung zu kommen (s. S. 8 des erwähnten Obergerichtsbeschlusses). Unter Ausnützung ihrer Schwierigkeiten gelang es ihm, ihr zuerst die Kinder wegzunehmen, die er unter allen Umständen in der Schweiz behalten will. Dann versuchte er, seinen Anspruch auf Scheidung gerade mit diesen Schwierigkeiten zu begründen, zuletzt sogar unter Hinweis auf den Widerruf der Niederlassungsbewilligung. Er unterstützte seine Frau auch dann nicht, als sie schwer erkrankte und während längerer Zeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnte. Dass sie unter diesen Umständen übrigens nicht bedeutendere Fürsorgeleistungen beanspruchte, ist bemerkenswert. Hinsichtlich dieser Fürsorgeleistungen ist zu beachten, dass die Beschwerdeführerin selber bloss einen Betrag von Fr. 661.15 erhielt. Den restlichen Betrag von fast Fr. 12'000.-- wendete das Gemeinwesen auf für den Sohn D., und zwar für dessen Heimaufenthalte. Dass diese Fürsorgeleistungen der Beschwerdeführerin zur Last gelegt werden, geht nicht an, nachdem der Vater sich seiner Verantwortung für den Sohn vorübergehend einfach entzogen hat. d) Erst nach einer gewissen Zeit muss auch der Beschwerdeführerin aufgegangen sein, dass ihr Mann sie bloss zu seinem eigenen Vorteil in die Schweiz gelotst hatte, ohne je mit ihr zusammenleben zu wollen. Hätte sie alles vorausgesehen, wäre sie kaum freien Willens in die Schweiz gekommen; jedenfalls handelte sie ganz nach den Wünschen ihres Mannes, die ihren Interessen in keiner Weise entsprechen sollten. Sollte ihr die Niederlassungsbewilligung nun entzogen werden, käme dies wiederum ihrem Ehemann gelegen, nachdem sie ihm heute nur noch zur Last fällt und er sie offensichtlich auch von den Kindern fernzuhalten trachtet.
Es kann zwar nicht Aufgabe der für den Widerruf der Niederlassungsbewilligung zuständigen Behörde sein, auf einen an sich möglichen Bewilligungswiderruf zu verzichten, um so eine Drittperson für moralisch verwerfliches Verhalten zu treffen. Indessen stellte es eine krasse Verletzung des Gerechtigkeitsgedankens dar, wollte man der Beschwerdeführerin die Niederlassungsbewilligung wegen einer Situation entziehen, in die sie ausschliesslich durch gröbste Verletzung der ehelichen Pflichten ihres Ehemannes geraten ist, während er selber hier weiterhin die Niederlassungsbewilligung hat und auch die gemeinsamen Kinder bei sich behält. Dass die Bedingungen für die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung an die Beschwerdeführerin gemäss Art. 17 Abs. 2
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BGE 112 Ib 473 S. 481
waren und es auch heute nicht sind, muss dabei in den Hintergrund rücken. e) Im übrigen spricht auch die notwendige und offensichtlich hier besser gewährleistete Behandlung der noch nicht vollständig überstandenen Krankheit der Beschwerdeführerin gegen ihre Entfernung aus der Schweiz. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Beschwerdeführerin mit einer Ausreise in die Türkei die Kontaktmöglichkeiten zu ihren Kindern vollständig abgeschnitten würden, dürfte doch ihr Ehemann nach allem bei seinen Kindern kaum eine positive Einstellung ihrer Mutter gegenüber fördern wollen. f) Sollte die Beschwerdeführerin tatsächlich später wiederum die öffentliche Fürsorge in Anspruch nehmen müssen, wie die Vorinstanz befürchtet, wofür aber keine Anhaltspunkte bestehen, hätten die Behörden nicht nur ihr, sondern auch ihrem Ehemann gegenüber fremdenpolizeiliche Massnahmen zu erwägen; er hat ihr gegenüber die eheliche Beistandspflicht, die ihm weiterhin obliegen wird, da er in absehbarer Zeit kaum einen Scheidungsanspruch haben dürfte. g) Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung erscheint unter den beschriebenen Umständen als unangebracht, ja willkürlich; die kantonalen Behörden haben somit ihr Ermessen nicht pflichtgemäss ausgeübt. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben.