Urteilskopf

112 Ia 339

52. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. Dezember 1986 i.S. Gemeinde Amriswil gegen Schweizerische Lebensversicherungs- und Rentenanstalt (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Erwägungen ab Seite 339

BGE 112 Ia 339 S. 339

Aus den Erwägungen:

1. a) An seiner Sitzung vom 7. November 1985 (Berufungsverhandlung) war das Obergericht mit drei ordentlichen Mitgliedern sowie mit einem ordentlichen und einem ausserordentlichen Ersatzrichter (Suppleanten) besetzt. Die Beschwerdeführerin erblickt in dieser Konstituierung eine nicht nur gegen das Willkürverbot des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, sondern auch gegen Art. 58 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 58 Armee - 1 Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.
1    Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.
2    Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Das Gesetz kann weitere Aufgaben vorsehen.
3    Der Einsatz der Armee ist Sache des Bundes.18
BV und Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK (Garantie des verfassungsmässigen Richters) verstossende Anwendung von § 36 des thurgauischen Gesetzes betreffend die Organisation des Gerichtswesens vom 22. März 1850 (Gerichtsorganisationsgesetz).
BGE 112 Ia 339 S. 340

b) Die erwähnte kantonalrechtliche Bestimmung hat folgenden Wortlaut: "Kann das Obergericht durch die drei ordentlichen Suppleanten nicht ergänzt werden, so findet die Beiziehung der Bezirksgerichtspräsidenten, und erforderlichenfalls der ihnen im Range folgenden Bezirksrichter statt." Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist der Beizug von ordentlichen Suppleanten nur zulässig, wenn ordentliche Mitglieder ausfallen und das Obergericht sonst nicht mehr mit der gesetzlich vorgesehenen Zahl von fünf Richtern (vgl. § 42 des Gerichtsorganisationsgesetzes) besetzt werden könnte. Auf ausserordentliche Ersatzrichter dürfe sodann erst zurückgegriffen werden, wenn auch der Kreis der ordentlichen Suppleanten ausgeschöpft sei. ... c) Die Rüge betreffend die Besetzung des Obergerichts hätte die Beschwerdeführerin bereits zu Beginn der kantonalen Berufungsverhandlung erheben können, zumal sie nicht etwa geltend macht, sie habe die Richter, die bei der Fällung des angefochtenen Entscheids mitgewirkt hätten, bzw. deren amtliche Stellung nicht gekannt. Wer einen (echten oder vermeintlichen) Organmangel der erwähnten Art feststellt und sich nicht dagegen zur Wehr setzt, sondern sich stillschweigend auf den Prozess einlässt, verwirkt den Anspruch auf spätere Anrufung der verletzten Verfassungsbestimmung (vgl. BGE 111 Ia 74 f. E. b betreffend die Ablehnung eines Schiedsrichters). Auf die erwähnte Rüge ist deshalb nicht einzutreten.
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Document : 112 IA 339
Date : 04. Dezember 1986
Published : 31. Dezember 1987
Source : Bundesgericht
Status : 112 IA 339
Subject area : BGE - Verfassungsrecht
Subject : Art. 58 BV; § 36 des thurgauischen Gerichtsorganisationsgesetzes; Verwirkung des Anspruchs auf den verfassungsmässigen Richter.


Legislation register
BV: 4  58
EMRK: 6
BGE-register
111-IA-72 • 112-IA-339
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