111 IV 68
19. Urteil des Kassationshofes vom 19. April 1985 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen F. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste (de):
- Art. 210
StGB, Veröffentlichung von Gelegenheiten zur Unzucht.
- Eine Veröffentlichung von Gelegenheiten zur Unzucht ist nur dann strafbar, wenn Wortlaut und/oder Aufmachung der Anzeige geeignet sind, Anstoss zu erregen und das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl des Lesers zu verletzen (Präzisierung der Rechtsprechung).
Regeste (fr):
- Art. 210 CP, publicité donnée aux occasions de débauche.
- La publicité donnée aux occasions de débauche n'est punissable que si les termes de l'annonce et/ou la manière dont elle est présentée sont de nature à choquer et à blesser le sentiment de la bienséance et des bonnes moeurs du lecteur (précision de la jurisprudence).
Regesto (it):
- Art. 210 CP, pubblicità di occasioni di libidine.
- La pubblicità di occasioni di libidine è punibile soltanto ove il testo dell'inserzione e/o la sua presentazione siano suscettibili di scandalizzare e di ferire il senso della decenza e dei buoni costumi del lettore (precisazione della giurisprudenza).
Sachverhalt ab Seite 68
BGE 111 IV 68 S. 68
A.- Frau F. liess am 25. Januar 1984 in der Tageszeitung Blick ein Kleininserat mit folgendem Wortlaut erscheinen: "Melanie
Zch-Wollishofen
...strasse ...
Parterre
Mo bis Fr 12 bis 20 Uhr."
Die Anzeige erschien in einer Reihe auf der gleichen Seite veröffentlichter einschlägiger Inserate, die teils mit weiblichen Vornamen, mit Hinweisen wie "Contact-Service", "Salon XY", "Studio XY" überschrieben waren und in einem Fall "hautnahen Kontakt zw. Mann + Frau" anpriesen.
B.- Mit Strafverfügung vom 22. Februar 1984 büsste das Statthalteramt des Bezirkes Zürich Frau F. wegen Veröffentlichung von Gelegenheiten zur Unzucht (Art. 210

BGE 111 IV 68 S. 69
Gegen diesen Entscheid reichten die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und das Statthalteramt des Bezirkes Zürich kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ein, welche das Obergericht des Kantons Zürich am 11. Januar 1985 abwies.
C.- Die Staatsanwaltschaft führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Begehren, der obergerichtliche Beschluss sei aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, Frau F. der Veröffentlichung von Gelegenheiten zur Unzucht schuldig zu sprechen.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Das Obergericht hält in seinem Beschluss fest, es sei unbestritten, dass beim fraglichen Inserat die Tatbestandsmerkmale der Öffentlichkeit und des auf Begünstigung der Unzucht gerichteten Vorsatzes gegeben seien. Die Frage offenlassend, ob Art. 210



2. Zu der vom Obergericht offengelassenen Frage nach dem möglichen Täterkreis hat das Bundesgericht in BGE 108 IV 174 eingehend Stellung bezogen. Es ist dabei zum Schluss gelangt, dass Art. 210

BGE 111 IV 68 S. 70
3. Welcher Sinn einer mündlichen oder schriftlichen Äusserung beizulegen ist, beurteilt sich in aller Regel darnach, wie der unbefangene Hörer oder Leser durchschnittlicher Intelligenz sie in guten Treuen verstehen kann. Diese objektivistische Betrachtungsweise hat das Bundesgericht im Rahmen verschiedener Straftatbestände angewendet, und es hat entsprechend als Rechtsfrage frei geprüft, ob z.B. eine bestimmte Äusserung ehrverletzend sei (BGE 105 IV 112 E. 2, 196 E. 2a u.a.m.), ob ein Inserat die öffentliche Ankündigung einer zeitlich befristeten Sondervergünstigung im Sinne der Ausverkaufsordnung enthalte (BGE 95 IV 158 E. 1), oder ob eine Anzeige gemäss Art. 13 lit. b


4. a) Die Vorinstanz folgert aus der Entwicklungsgeschichte des Art. 210





BGE 111 IV 68 S. 71
des einzelnen Lesers schützen wolle, und dass er anderseits nur anwendbar sei, wenn die fragliche Veröffentlichung beim Leser Ärgernis errege, d.h. sein Anstands- und Sittlichkeitsgefühl verletze. b) Wie STRATENWERTH zu Recht bemerkt, ist die Schutzrichtung von Art. 210


Weil u.a. die Strafbarkeit der Prostitution zu ausführlichen Diskussionen Anlass gab (vgl. MEIER, a.a.O., S. 73 ff.), blieb die Detailberatung des damaligen Art. 263 in der
BGE 111 IV 68 S. 72
2. Expertenkommission eher oberflächlich (vgl. Prot. 2. ExpKomm VII, S. 104-106). Man gab sich über den genauen Gehalt der Bestimmung nicht klar und deutlich Rechenschaft, was z.B. aus der abschliessenden Antwort Bundesrat Müllers auf eine kritische Frage Langs hervorgeht, "regelmässig" werde es sich wohl um das Vorschubleisten zugunsten Dritter handeln (a.a.O., S. 106). In der Botschaft des Bundesrates vom 23. Juli 1918 wird ausdrücklich die Bekämpfung öffentlichen Ärgernisses in den Vordergrund gestellt und das "Veröffentlichen" im übrigen sogar nur als Ergänzung der Kuppeleivergehen kurz erwähnt (S. 71). Der deutschsprachige Berichterstatter der Kommission führte vor dem Nationalrat aus, es sollten die stossenden Fälle erfasst werden, die zu allgemeinem Ärgernis Anlass geben (Votum Seiler Sten.Bull. NR 1929, S. 408). Auch der französischsprachige Referent wies auf den Zielgedanken der "propreté publique" hin (Votum Logoz, a.a.O., S. 414). Wenn er daneben noch die Einschränkung des "recrutement de la prostitution" (Kundenwerbung) erwähnte, so ist nicht zu übersehen, dass diese Blickrichtung zumindest in einem gewissen Widerspruch zur Straflosigkeit der Gewerbsunzucht steht und auf deren Verhinderung abzielt (s. unten E. 4c). Klarere Ausführungen zur Frage, ob das "Veröffentlichen von Gelegenheiten zur Unzucht" schon an sich oder nur dann strafbar sein soll, wenn es nach Form und Ausdruck Sitte oder Anstand verletzt, finden sich in den Protokollen nicht. c) Zusammenfasssend ist festzuhalten, dass hinsichtlich der heute zu untersuchenden Strafbestimmung immer wieder von "Ärgernis" oder "Verletzung des Anstands- und Sittlichkeitsgefühls" die Rede ist. Nur in zwei Bemerkungen wird einmal die verführende Wirkung der Gewerbsunzucht erwähnt und das zweite Mal als Ziel die Einschränkung der Kundenwerbung genannt (s.o.). Beide Hinweise vermögen jedoch nicht zu überzeugen, da die Absicht eines wirkungsvollen Schutzes vor den "Verlockungen" der Prostitution konsequenterweise das Verbot der letzteren hätte nach sich ziehen müssen. Im Grunde genommen laufen beide Äusserungen darauf hinaus, die - ausdrücklich straffreie - Gewerbsunzucht in ihrer Ausübung einzuschränken, ohne dass näher begründet würde, welches Rechtsgut damit konkret geschützt werden sollte. d) Die regelmässige Berufung auf Sitte und Anstand lässt zwei Auslegungen zu: Zum einen ist es denkbar, dass die Veröffentlichung
BGE 111 IV 68 S. 73
von Gelegenheiten zur Unzucht grundsätzlich als Anstoss erregend qualifiziert wurde; es ist andererseits aber auch möglich, dass Tathandlungen dieser Art nur dann als strafwürdig erachtet wurden, wenn sie konkret geeignet sind, allgemein das Anstands- und Sittlichkeitsgefühl zu verletzen. Eine Antwort auf die Frage, welche Variante der Ansicht des historischen Gesetzgebers entspricht, lässt sich den Materialien nicht eindeutig entnehmen. Schon 1895 stellte PROF. VON LILIENTHAL fest, bei der interessierenden Strafnorm handle es sich um "keine sehr praktische Bestimmung", mit der "erheblich über das Ziel hinaus geschossen worden" sei, "um so mehr als ein öffentlicher Hinweis auf Gelegenheiten zur Unzucht wohl in allen wirklich bedenklichen Fällen sich als unzüchtige Schrift darstellen wird" (ZStrW 15/1895, S. 335). Es erscheint denn auch als gerechtfertigt, mit der Vorinstanz die Strafbarkeit auf jene Fälle zu beschränken, in denen von einer "anstössigen und das Schamgefühl verletzenden" Annonce gesprochen werden muss. Zu Recht präzisiert das Obergericht, dass damit nicht nur die im Sinne von Art. 204

BGE 111 IV 68 S. 74
e) Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden ist. Das inkriminierte Inserat an sich ist neutral, diskret und beim durchschnittlichen Betrachter nicht geeignet, Ärgernis zu erregen. Auch wenn es entgegen der Ansicht der Vorinstanz kaum der Phantasie bedarf, um die Bedeutung des Angebotes zu erkennen (s. oben E. 3, so wird durch die blosse Angabe von Name, Adresse, Telefonnummer und Empfangszeiten die Grenze von Sitte und Anstand nicht überschritten, da nicht die geringste Beifügung die Absicht der Beschwerdegegnerin verdeutlicht. Auf die Ansicht des besonders empfindsamen Bürgers kann es hier nicht ankommen (BGE 96 IV 69; vgl. auch BGE 104 IV 88 unten).
f) Wenn aber einer einzelnen derartigen Anzeige kein strafwürdiger Charakter zukommt, dann ist nicht zu sehen, wieso sie diesen in einer Rubrik mit analogen Inseraten erhalten sollte. Zwar mag eine solche Ballung als aufdringlich erscheinen; an der rechtlichen Beurteilung der einzelnen Anzeige ändert dies jedoch nichts. Wenn auch der Zweck der Annonce in einem solchen Umfeld leichter erkennbar wird, bleiben Text und Aufmachung doch neutral. Schliesslich ist der Hinweis der Beschwerdeführerin, wonach das Inserat in einer Kindern zugänglichen Tageszeitung erschien, unbeachtlich, da nicht zu sehen ist, wie Kinder durch derart neutrale Annoncen gefährdet oder auch nur belästigt werden könnten.
Dispositiv
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen.