Urteilskopf

108 V 245

54. Urteil vom 30. Dezember 1982 i.S. Paolucci gegen Schweizerische Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons Aargau
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Sachverhalt ab Seite 246

BGE 108 V 245 S. 246

A.- Ende Juni 1979 beantragte Donato Paolucci den Beitritt zur Schweizerischen Krankenkasse Helvetia (im folgenden Kasse genannt) für Krankenpflege und ein Krankengeld von Fr. 100.-- sowie für ein Spitalgeld von Fr. 24.-- und einen kombinierten Spitalzusatz (Versicherungsabteilung HU 1). Die Kasse nahm ihn auf den 1. Juli 1979 antragsgemäss und ohne Vorbehalt auf. Mitte Oktober 1979 begab sich Donato Paolucci wegen Rückenschmerzen in ärztliche Behandlung und vom 5. bis 26. Februar 1980 musste er sich in der Rheumaklinik Bad Schinznach hospitalisieren lassen. Die Abklärungen der Kasse ergaben, dass Donato Paolucci bereits im Jahre 1976 und von Februar bis Juli 1979 wegen Rückenbeschwerden ärztlicher Hilfe bedurft hatte. Da im Aufnahmegesuch angegeben worden war, es bestünden zur Zeit keine Krankheiten und es hätte in den letzten 5 Jahren keine ärztliche Behandlung stattgefunden, schloss ihn die Kasse mit Verfügung vom 8. Juli 1980 rückwirkend auf den 1. Juli 1979 aus und behielt sich die Rückforderung der erbrachten Krankenpflege- und Krankengeldleistungen von Fr. 21'027.20 abzüglich der geleisteten Monatsbeiträge vor.
B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Obergericht (Versicherungsgericht) des Kantons Aargau am 3. Februar 1981 ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Donato Paolucci sinngemäss die Aufhebung des Kassenausschlusses. Die Kasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt, die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Erwägungen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. a) Nach Art. 104 lit. a OG kann mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens gerügt werden. Die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig oder unvollständig ist oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen erfolgte (Art. 104 lit. b in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 OG).
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen (einschliesslich deren Rückforderung) erstreckt sich dagegen die Überprüfungsbefugnis des Eidg. Versicherungsgerichts auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG; erweiterte Kognition). b) Der Streit um die Mitgliedschaft (Kassenausschluss) unterliegt der Kognition gemäss Art. 104 lit. a OG (BGE 97 V 191; RSKV 1982 Nr. 496 S. 156, 1970 Nr. 82 S. 215 Erw. 2; nicht veröffentlichte Urteile Cochard vom 4. Februar 1981 und Vacchelli vom 4. April 1978). Häufig ist jedoch im gleichen Beschwerdeverfahren nebst dem Kassenausschluss auch die mit diesem begründete Verweigerung von Kassenleistungen oder die Rückforderung bereits erbrachter Kassenleistungen streitig. Diesfalls muss für beide Streitfragen der gleiche Sachverhalt zugrundegelegt werden, der vom Eidg. Versicherungsgericht mit der erweiterten Kognition überprüft wird (Attraktionsprinzip; BGE 98 V 276 Erw. 3). Dagegen richtet sich die rechtliche Beurteilung nach der Natur der einzelnen Streitpunkte; für den Leistungsstreit ist das Eidg. Versicherungsgericht nicht an die Parteibegehren gebunden und es kann die Angemessenheit frei prüfen; für den streitigen Kassenausschluss aber gilt die Kognition gemäss Art. 104 lit. a OG. c) Nach Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung besteht im vorliegenden Fall ein genügend enger Zusammenhang zwischen dem Kassenausschluss und der Rückforderung, um die erweiterte Kognition zum Zuge kommen zu lassen; zwar sei die Rückerstattung noch nicht formell verfügt worden, mit dem Vorbehalt der Rückforderung in der Ausschluss-Verfügung habe die
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Kasse jedoch eine Vorentscheidung auch über Versicherungsleistungen getroffen. Dem kann indessen nicht beigepflichtet werden. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist in Übereinstimmung mit der angefochtenen Kassenverfügung einzig die Frage des Mitgliedschaftsverlusts. Dass der Kassenausschluss für den Beschwerdeführer finanzielle Folgen haben kann, ist nicht massgebend. Entscheidend ist, dass prozessual keine Leistungen streitig sind.
2. a) Nach Art. 21 Abs. 1 lit. a der Statuten der Kasse kann ein Mitglied ausgeschlossen werden, wenn es im Aufnahme- oder Übertrittsgesuch die ihm gestellten Fragen wahrheitswidrig oder unvollständig beantwortet hat. Nach der Rechtsprechung sind Bestimmungen dieser Art nicht bundesrechtswidrig (BGE 96 V 3 Erw. 2b, EVGE 1967 S. 141 Erw. 2, RSKV 1974 Nr. 196 S. 89, nicht veröffentlichtes Urteil Amacher vom 5. April 1982). Da es sich indessen um eine Sanktion handelt, ist im Einzelfall der allgemeine verwaltungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten, welcher verlangt, dass die Sanktion in einem vernünftigen Verhältnis zu dem von der Kasse verfolgten Zweck und zum Verschulden des Versicherten steht (BGE 106 V 173 Erw. 2 mit Hinweisen). Der Kassenausschluss ist die strengste Sanktion und für den Betroffenen meist mit einschneidenden Folgen verbunden. Daher setzt er ein besonders schweres Verschulden des Versicherten bzw. Umstände voraus, welche die fragliche Mitgliedschaft für die Kasse schlechthin als unzumutbar erscheinen lassen (RSKV 1978 Nr. 322 S. 95, nicht veröffentlichtes Urteil Amacher vom 5. April 1982). b) Schuldhaft verletzt ein Gesuchsteller die Anzeigepflicht, wenn er der Kasse auf deren Frage hin eine bestehende Krankheit oder eine vorher bestandene, zu Rückfällen neigende Krankheit nicht anzeigt, obwohl er darum wusste oder bei der ihm zumutbaren Aufmerksamkeit darum hätte wissen müssen (BGE 106 V 173 Erw. 2 mit Hinweisen). Der Aufnahmebewerber ist bereits auf dem Beitrittsformular an gut sichtbarer Stelle mit einem ausdrücklichen, von den andern Bestimmungen deutlich abgehobenen Hinweis auf die im Falle einer Anzeigepflichtverletzung möglichen schwersten Sanktionen, den Ausschluss aus der Kasse und den Entzug der Leistungen, aufmerksam zu machen. Vorbehalten bleiben Ausnahmefälle, in denen das zu beanstandende Verhalten eines Versicherten oder Aufnahmebewerbers als so schwerwiegend erscheint, dass nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die
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fragliche Sanktion auch ohne Einhaltung der genannten Androhung zulässig ist (BGE 96 V 3 Erw. 2c; EVGE 1968 S. 165; RSKV 1980 Nr. 406 S. 89, 1976 Nr. 242 S. 46, 1974 Nr. 196 S. 89, 1970 Nr. 83 S. 222; nicht veröffentlichtes Urteil Schudel vom 8. September 1981).
3. a) Der Beschwerdeführer war im Jahre 1976 wegen Rückenschmerzen in Behandlung bei Dr. med. S. Ende 1976 suchte er mehrere Male wegen Prostatitis und Neurasthenie Dr. med. V. auf. Am 23. Februar 1977 begab er sich zu diesem Arzt wegen Rückenbeschwerden, am 23. Januar 1979 erneut wegen des Prostataleidens und im Februar 1979 wegen einer heftigen Lumbalgie. Vom 12. Februar bis 12. März 1979 war er vollständig arbeitsunfähig. Da Injektionen und Medikamente keinen Erfolg brachten, wandte er sich an Dr. med. S., der ihn zur Untersuchung an die Rheumaklinik des Kantonsspitals Aarau überwies. Die Behandlung dauerte bis September 1979. Der Beschwerdeführer gab diese Tatsachen im Aufnahmegesuchsformular nicht an, indem er die Fragen, ob er in den letzten fünf Jahren in ärztlicher Behandlung gestanden habe und ob zurzeit Krankheiten, Krankheitsanlagen oder Gebrechen bestünden, ausdrücklich verneinte. Die Frage, ob er sich vollständig gesund fühle, bejahte er. Es liegt somit eine Anzeigepflichtverletzung vor. b) Zu prüfen ist, ob das Verschulden des Beschwerdeführers so schwer wiegt, dass sich der Ausschluss aus der Kasse rechtfertigt. Das ist zu bejahen. Es handelt sich bei den verschwiegenen Leiden um erhebliche gesundheitliche Störungen, die intensive ärztliche Behandlung notwendig machten und Rückfälle erwarten liessen. Darüber war oder musste sich der Beschwerdeführer im klaren sein. Die Vorinstanz hat erkannt, dass er sodann die ihm im Gesuchsformular gestellten Fragen verstanden hat und sich sowohl der Bedeutung wie der Unrichtigkeit seiner Antworten bewusst gewesen ist. Hinzu kommt die weitere, für das Eidg. Versicherungsgericht verbindliche Feststellung der Vorinstanz, dass das Beitrittsgesuch als Reaktion auf die von der früheren Kasse (Schweizerische Krankenkasse Zurzach) aus gesundheitlichen Gründen verweigerte Versicherung für Krankengeld und Spitalzusatz erfolgt ist und dass der Beschwerdeführer seine Leiden offensichtlich in der Absicht verschwiegen hat, einen Versicherungsschutz zu erwirken, den ihm die bisherige Kasse nicht hat gewähren wollen. Damit ist ein wesentliches Kennzeichen eines besonders schweren Verschuldens gegeben, nämlich jenes dolose

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Erschleichen einer Versicherungsdeckung, welches das gegenseitige Vertrauensverhältnis in einem Masse stört, dass der Kasse die Mitgliedschaft nicht zugemutet werden kann (nicht veröffentlichtes Urteil Amacher vom 5. April 1982). Unter diesen Umständen ist der Kassenausschluss nicht unverhältnismässig.
4. a) Demgegenüber macht der Beschwerdeführer geltend, er habe dem Sektionskassier bei der Gesuchstellung alle erforderlichen Auskünfte erteilt und dieser habe ihm dann diktiert, wie das Formular auszufüllen sei; er habe im Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Anweisungen gehandelt. Berät ein Kassenfunktionär den Aufnahmebewerber oder hilft er ihm bei der Beantwortung der Fragen im Formular für die Beitrittserklärung, so entbindet das den Gesuchsteller weder von der Pflicht zu Wahrheit und sachgemässer Sorgfalt noch von der Verantwortlichkeit für die unterschriftlich bestätigten Angaben (BGE 102 V 198 Erw. 4 und BGE 96 V 9 Erw. 1; nicht veröffentlichtes Urteil Amacher vom 5. April 1982). Ein Abweichen von diesem Grundsatz vermöchte sich nur zu rechtfertigen, wenn das Verhalten des Kassenfunktionärs anlässlich der Beratung oder der Mithilfe eine Behaftung des Aufnahmebewerbers bei den unvollständigen oder wahrheitswidrigen Angaben als gegen Treu und Glauben verstossend erscheinen liesse (vgl. in diesem Zusammenhang BGE 108 V 28 Erw. 2). Solche Umstände sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Vorinstanz hat festgestellt, dass der Sektionskassier den Beschwerdeführer weder durch falsche Auskünfte noch durch anderweitig irreführendes Verhalten zu einer wahrheitswidrigen Gesundheitserklärung veranlasst und dass der Beschwerdeführer den Kassier auf die hier streitigen Leiden nicht aufmerksam gemacht hatte. Diese Feststellung bindet das Eidg. Versicherungsgericht. Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer bei seinen Angaben im schriftlichen Aufnahmegesuch nicht behaftet werden dürfte. b) Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Kasse hätte seine Angaben bei der Krankenkasse Zurzach ohne weiteres überprüfen können und wäre namentlich im Hinblick auf die schweren Folgen bei einer Anzeigepflichtverletzung hiezu auch verpflichtet gewesen. Ob die Krankenkassen zu solchen Abklärungen verhalten werden können und inwieweit im Lichte der Schweigepflicht der Kassen gemäss Art. 40 KUVG Auskünfte überhaupt zulässig sind, liesse sich indessen höchstens fragen, wenn der Gesuchsteller die aufnehmende Kasse auf die Leistungen oder Unterlagen der

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bisherigen Kasse verwiesen hätte. So hat das Eidg. Versicherungsgericht mit Bezug auf Versicherte, die bei ihrer Kasse eine Höherversicherung beantragen, entschieden, dass die Kassen nicht verpflichtet werden könnten, von sich aus regelmässig in ihren Akten über den Bewerber Nachforschungen über bestandene Krankheiten und früher erbrachte Leistungen anzustellen; um eine solche Abklärungspflicht der Kasse auszulösen, bedürfe es zumindest eines entsprechenden Hinweises seitens des Versicherten (BGE 96 V 9 Erw. 1; EVGE 1969 S. 7 Erw. 4; RSKV 1980 Nr. 424 S. 211 Erw. 4, 1977 Nr. 305 S. 216 Erw. 2d, 1974 Nr. 194 S. 78, 1971 Nr. 113 S. 236 Erw. 2). Das hat in vermehrtem Masse dann zu gelten, wenn die Erkundigungen bei andern Kassen einzuholen wären. Hinweise irgendwelcher Art auf die fraglichen Leiden und die Leistungen der Krankenkasse Zurzach hatte der Beschwerdeführer nach den vorinstanzlichen Feststellungen nicht gemacht, so dass sein Einwand unbehelflich ist. Im übrigen vermöchte die gerügte Unterlassung der Kasse sein eigenes Verschulden nicht als vermindert oder gemildert erscheinen zu lassen. Ein allfälliges Verschulden der Kasse wäre nur beachtlich, soweit sie in einem Masse gegen ihre Pflichten verstossen hätte, dass der Vorwurf der Verschweigung den Grundsatz von Treu und Glauben verletzen müsste, die Kasse sich mithin noch tadelnswerter verhalten hätte als der Versicherte (RSKV 1979 Nr. 361 S. 73, 1977 Nr. 279 S. 42 Erw. 1). Davon kann hier indessen nicht die Rede sein. c) Verfehlt ist schliesslich die Geltendmachung eines Zügerrechts. Der Beschwerdeführer erfüllt die hiefür erforderlichen Voraussetzungen des Art. 7 oder Art. 8 Abs. 1 bis 3 KUVG nicht. Die Statuten der Kasse räumen keine weitergehende Freizügigkeit ein.
Dispositiv

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 108 V 245
Datum : 30. Dezember 1982
Publiziert : 31. Dezember 1982
Quelle : Bundesgericht
Status : 108 V 245
Sachgebiet : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Gegenstand : Art. 104 lit. a, 105 Abs. 2 und Art. 132 OG, Art. 3 Abs. 3 KUVG. - Überprüfungsbefugnis beim Streit um den Ausschluss eines


Gesetzesregister
KUVG: 3  7  8  40
OG: 104  105  132
BGE Register
102-V-193 • 106-V-170 • 108-V-245 • 108-V-27 • 96-V-1 • 96-V-8 • 97-V-190 • 98-V-274
Stichwortregister
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