107 Ia 148
28. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 21. Oktober 1981 i.S. X. gegen Untersuchungsrichter 6 von Bern und Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Persönliche Freiheit, Art. 8
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 8 Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - (1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
- Bei der Briefkontrolle ist darauf zu achten, dass das Personal, welches die Post vom Untersuchungsrichter zum Untersuchungsgefangenen und umgekehrt befördern muss, nicht in die Briefe Einsicht nehmen kann.
Regeste (fr):
- Liberté personnelle, art. 8 CEDH; protection du secret de la correspondance de l'inculpé détenu préventivement.
- Lors du contrôle de la correspondance, il y a lieu de veiller à ce que le personnel chargé de l'acheminement du courrier visé par le juge d'instruction à destination de l'inculpé détenu préventivement ou en provenance de celui-ci ne puisse prendre connaissance de son contenu.
Regesto (it):
- Libertà personale, art. 8 CEDU; protezione del segreto della corrispondenza dell'imputato in carcere preventivo.
- In occasione del controllo della corrispondenza occorre provvedere a che il personale incaricato di avviare la posta vistata dal giudice istruttore a destinazione dell'imputato in carcere preventivo e quella proveniente da costui e destinata al giudice istruttore, non possa prendere conoscenza del suo contenuto.
Sachverhalt ab Seite 148
BGE 107 Ia 148 S. 148
Der Untersuchungsgefangene X. reichte gegen den Untersuchungsrichter 6 von Bern Beschwerde bei der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern ein. Er rügte unter anderem, dass die für ihn eingehende Post vom Untersuchungsrichter nach der Kontrolle unverschlossen weitergegeben werde; durch dieses Vorgehen könnten zur Zensur nicht befugte Dritte in seine Post Einsicht nehmen, was eine Verletzung des Briefgeheimnisses bedeute. Die Anklagekammer des Obergerichts wies die Beschwerde mit Beschluss vom 21. Juli 1981 ab. Hinsichtlich der unverschlossenen Weitergabe der zensurierten Post vertrat sie die Ansicht, die mit der Zustellung beauftragten Funktionäre handelten als Organe der gerichtlichen Polizei und unterstünden dem Amtsgeheimnis; eine Verletzung des Postgeheimnisses liege daher nicht vor.
BGE 107 Ia 148 S. 149
X. führt gegen den Entscheid der Anklagekammer staatsrechtliche Beschwerde, soweit er sich auf die Frage der offenen Weiterleitung der eingehenden Post bezieht.
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
2. Wenn der Untersuchungsrichter die für den Beschwerdeführer eingehende Post nach der Kontrolle unverschlossen weitergibt, kann das Gefängnispersonal, das die Briefe vom Untersuchungsrichter zum Untersuchungsgefangenen befördern muss, vom Inhalt der für den Beschwerdeführer bestimmten Post Kenntnis nehmen. Es steht somit ein Eingriff in das Briefgeheimnis zur Diskussion. Art. 36 Abs. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 36 Einschränkungen von Grundrechten - 1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. |
|
1 | Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. |
2 | Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. |
3 | Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein. |
4 | Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar. |
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 36 Einschränkungen von Grundrechten - 1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. |
|
1 | Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. |
2 | Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. |
3 | Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein. |
4 | Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar. |
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 8 Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - (1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. |
BGE 107 Ia 148 S. 150
Zensur bildet denn auch als solche nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde. Hingegen ist nicht einzusehen, weshalb der Briefverkehr von Häftlingen noch von anderen Personen als von dem mit der Kontrolle beauftragten Richter oder Beamten sollte eingesehen werden können. Der Zweck der Untersuchung erfordert dies nicht. Mit Gründen der Anstaltsordnung lässt sich die offene Weiterleitung der zensurierten Post ebenfalls nicht rechtfertigen. Es bedeutet keinen ins Gewicht fallenden Mehraufwand für den Untersuchungsrichter, den kontrollierten Brief mit einem Klebstreifen oder auf andere Art wieder zu verschliessen. In der deutschen Rechtslehre wird beispielsweise die Ansicht vertreten, der Richter habe die eingehende Post nach der Zensurlektüre in einem verschlossenen Begleitumschlag an den Untersuchungsgefangenen weiterzuleiten (Kommentar LÖWE/ROSENBERG zur deutschen Strafprozessordnung, 23. Aufl., Band 2, N. 107 zu § 119). Weder bei diesem noch bei einem allenfalls in Betracht zu ziehenden anderen System wird der Anstaltsbetrieb in untragbarer Weise erschwert oder der Untersuchungsrichter übermässig belastet, wenn die kontrollierte eingehende Post verschlossen an den Untersuchungsgefangenen weitergeleitet werden muss. Was die ausgehende Post betrifft, die zwar nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde bildet, aber hier gleichwohl zu erwähnen ist, so kann ebenfalls nicht von einer unzumutbaren Erschwerung des Anstaltsbetriebs gesprochen werden, wenn dem Untersuchungsgefangenen gestattet wird, die von ihm verfassten Briefe in einem verschlossenen Kuvert dem Untersuchungsrichter zur Kontrolle zuzuleiten. Der Untersuchungsgefangene hat ein durchaus beachtliches Interesse an der verschlossenen Weiterleitung der zensurierten eingehenden Post. Der Eingriff in die Privatsphäre, der mit der Postkontrolle verbunden ist, wirkt sich ungleich schwerer aus, wenn nicht nur der Untersuchungsrichter, sondern auch die Gefängnisangestellten, mit denen der Untersuchungsgefangene in täglichem Kontakt steht, vom Inhalt der gesamten an ihn gerichteten Post Kenntnis erlangen können. Dass diese Angestellten ebenfalls dem Amtsgeheimnis unterstehen, lässt den Schutz - entgegen der Auffassung der Anklagekammer - nicht als entbehrlich erscheinen. Die Verletzung des verfassungsmässigen Rechtes auf die persönliche Intimsphäre liegt nicht bloss in der Gefahr, dass die Gefängnisangestellten ihre Kenntnisse nach aussen weitergeben könnten, sondern auch darin, dass sie diese überhaupt erlangen und allenfalls (ohne dadurch gegen Art. 320
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 StGB Art. 320 - 1. Wer ein Geheimnis offenbart, das ihm in seiner Eigenschaft als Mitglied einer Behörde oder als Beamter anvertraut worden ist oder das er in seiner amtlichen oder dienstlichen Stellung oder als Hilfsperson eines Beamten oder einer Behörde wahrgenommen hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
|
1 | Wer ein Geheimnis offenbart, das ihm in seiner Eigenschaft als Mitglied einer Behörde oder als Beamter anvertraut worden ist oder das er in seiner amtlichen oder dienstlichen Stellung oder als Hilfsperson eines Beamten oder einer Behörde wahrgenommen hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. |
2 | Der Täter ist nicht strafbar, wenn er das Geheimnis mit schriftlicher Einwilligung seiner vorgesetzten Behörde offenbart hat. |
BGE 107 Ia 148 S. 151
Häftling selbst in der einen oder andern Form davon Gebrauch machen könnten. Die unverschlossene Weiterleitung der kontrollierten eingehenden Post bildet nach dem Gesagten eine "unnötige Strenge" gegenüber dem Untersuchungsgefangenen (Art. 122 Abs. 2 StrV) und stellt einen unverhältnismässigen Eingriff dar. Das Vorgehen des Untersuchungsrichters 6 von Bern ist daher unter dem Gesichtspunkt des verfassungsmässigen Rechtes auf die persönliche Geheimsphäre wie auch aufgrund von Art. 8
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) EMRK Art. 8 Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - (1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. |