Urteilskopf

102 V 242

59. Auszug aus dem Urteil vom 26. November 1976 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Rüegg und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


BGE 102 V 242 S. 242

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. Die vom 4. Juli 1975 datierte Kassenverfügung ist Karl Rüegg am 7. Juli 1975 zugestellt worden. Die 30tägige Beschwerdefrist begann daher am 8. Juli 1975 zu laufen und endete am 6. August 1975. Die vorinstanzliche Beschwerde wurde aber erst am 7. August 1975, also nach Ablauf der Rechtsmittelfrist, eingereicht. Es ist zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht die versäumte Frist wiederhergestellt hat und auf die offensichtlich verspätete
BGE 102 V 242 S. 243

Beschwerde eingetreten ist. Dass das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Stellungnahme in formellrechtlicher Beziehung verzichtet, entbindet das Gericht nicht von dieser Prüfungspflicht (vgl. GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, 2. Aufl. 1974, S. 76, Ziff. 4).
2. a) Nach Art. 69
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 69 Besonderheiten der Rechtspflege - 1 In Abweichung von den Artikeln 52 und 58 ATSG414 sind die nachstehenden Verfügungen wie folgt anfechtbar:
1    In Abweichung von den Artikeln 52 und 58 ATSG414 sind die nachstehenden Verfügungen wie folgt anfechtbar:
a  Verfügungen der kantonalen IV-Stellen: direkt vor dem Versicherungsgericht am Ort der IV-Stelle;
b  Verfügungen der IV-Stelle für Versicherte im Ausland: direkt beim Bundesverwaltungsgericht.416
1bis    Das Beschwerdeverfahren bei Streitigkeiten über IV-Leistungen vor dem kantonalen Versicherungsgericht ist kostenpflichtig.417 Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von 200-1000 Franken festgelegt.418
2    Absatz 1bis sowie Artikel 85bis Absatz 3 AHVG419 gelten sinngemäss für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.420
3    Gegen Entscheide der kantonalen Schiedsgerichte nach Artikel 27quinquies kann nach Massgabe des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005421 beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden.422
IVG in Verbindung mit Art. 84 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 84 Besondere Zuständigkeit - Über Beschwerden gegen Verfügungen und Einspracheentscheide kantonaler Ausgleichskassen entscheidet in Abweichung von Artikel 58 Absatz 1 ATSG386 das Versicherungsgericht am Ort der Ausgleichskasse.
AHVG kann gegen Verfügungen der Ausgleichskassen innert 30 Tagen seit der Zustellung Beschwerde erhoben werden. Diese gesetzliche Frist darf der Richter nicht erstrecken (Art. 22 Abs. 1
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 22
1    Eine gesetzliche Frist kann nicht erstreckt werden.
2    Eine behördlich angesetzte Frist kann aus zureichenden Gründen erstreckt werden, wenn die Partei vor Ablauf der Frist darum nachsucht.
VwVG in Verbindung mit Art. 96
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 96
AHVG und Art. 81
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 81
IVG). Läuft die Frist unbenützt ab, so erwächst die Verfügung in formelle Rechtskraft mit der Wirkung, dass der Richter auf die verspätet eingereichte Beschwerde nicht eintreten kann. Hingegen kann gemäss Art. 24
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 24
1    Ist der Gesuchsteller oder sein Vertreter unverschuldeterweise abgehalten worden, binnen Frist zu handeln, so wird diese wieder hergestellt, sofern er unter Angabe des Grundes innert 30 Tagen nach Wegfall des Hindernisses darum ersucht und die versäumte Rechtshandlung nachholt; vorbehalten bleibt Artikel 32 Absatz 2.63
2    Absatz 1 ist nicht anwendbar auf Fristen, die in Patentsachen gegenüber dem Eidgenössischen Institut für geistiges Eigentum zu wahren sind.64
VwVG in Verbindung mit Art. 96
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 96
AHVG und Art. 81
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 81
IVG eine Frist wiederhergestellt werden, wenn der Gesuchsteller oder sein Vertreter unverschuldet abgehalten worden ist, innert der Frist zu handeln, und wenn er binnen 10 Tagen nach Wegfall des Hindernisses ein begründetes Begehren um Wiederherstellung einreicht und die versäumte Rechtshandlung nachholt. Unzutreffend ist in diesem Zusammenhang die Auffassung der Vorinstanz, dass - wie Art. 85 Abs. 2
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
AHVG - auch diese Ordnung über die Wiederherstellung einer Frist, soweit sie das kantonale Rekursverfahren betrifft, "nur als Wegleitung an die Kantone im Sinne einer Minimalanforderung zu verstehen ist, die den Kantonen Raum für eine weitergehende Regelung zum Rechtsschutz des Bürgers in diesem Bereich offenlässt". Entgegen Art. 85 Abs. 2
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
AHVG, der lediglich die allgemeinen Anforderungen umschreibt, denen das grundsätzlich kantonale Beschwerdeverfahren zu genügen hat, erklärt Art. 96
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 96
AHVG die Art. 20
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 20
1    Berechnet sich eine Frist nach Tagen und bedarf sie der Mitteilung an die Parteien, so beginnt sie an dem auf ihre Mitteilung folgenden Tage zu laufen.
2    Bedarf sie nicht der Mitteilung an die Parteien, so beginnt sie an dem auf ihre Auslösung folgenden Tage zu laufen.
2bis    Eine Mitteilung, die nur gegen Unterschrift des Adressaten oder einer anderen berechtigten Person überbracht wird, gilt spätestens am siebenten Tag nach dem ersten erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt.51
3    Ist der letzte Tag der Frist ein Samstag, ein Sonntag oder ein vom Bundesrecht oder vom kantonalen Recht anerkannter Feiertag, so endet sie am nächstfolgenden Werktag. Massgebend ist das Recht des Kantons, in dem die Partei oder ihr Vertreter Wohnsitz oder Sitz hat.52
-24
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 24
1    Ist der Gesuchsteller oder sein Vertreter unverschuldeterweise abgehalten worden, binnen Frist zu handeln, so wird diese wieder hergestellt, sofern er unter Angabe des Grundes innert 30 Tagen nach Wegfall des Hindernisses darum ersucht und die versäumte Rechtshandlung nachholt; vorbehalten bleibt Artikel 32 Absatz 2.63
2    Absatz 1 ist nicht anwendbar auf Fristen, die in Patentsachen gegenüber dem Eidgenössischen Institut für geistiges Eigentum zu wahren sind.64
VwVG als direkt anwendbar. Damit werden die Berechnung, Einhaltung und Erstreckung der Fristen sowie die Säumnisfolgen und die Wiederherstellung einer Frist ausdrücklich durch Bundesrecht geregelt, welches auf diesen Gebieten eine Anwendung weitergehenden oder einschränkenden kantonalen Rechts ausschliesst. b) Nach der Rechtsprechung hat derjenige, der sich während eines hängigen Verfahrens für längere Zeit von dem den Behörden bekanntgegebenen Adressort entfernt, ohne für die
BGE 102 V 242 S. 244

Nachsendung der an die bisherige Adresse gelangenden Korrespondenz zu sorgen und ohne der Behörde zu melden, wo er nunmehr zu erreichen ist, bzw. ohne einen Vertreter zu beauftragen, nötigenfalls während seiner Abwesenheit für ihn zu handeln, eine am bisherigen Ort versuchte Zustellung als erfolgt gelten zu lassen (BGE 97 III 10 und BGE 86 II 4; nicht veröffentlichte Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts i.S. Waeber vom 22. September 1976 und Egloff vom 3. April 1973).
3. Im vorliegenden Fall erklärte Karl Rüegg in der vorinstanzlichen Beschwerde u.a. folgendes: "Nach meinen Ferien finde ich unter meinen Postzustellungen Ihre Hiobsbotschaft." Daraus kann nicht ohne weiteres geschlossen werden, der Grund für die verspätet erhobene Beschwerde liege in der Ferienabwesenheit. Es ist durchaus möglich, dass Karl Rüegg noch vor Fristablauf aus den Ferien zurückgekehrt ist und das Rechtsmittel noch rechtzeitig hätte ergreifen können. Selbst wenn indessen zu seinen Gunsten angenommen wird, er habe infolge Abwesenheit vom Wohnort das Rechtsmittel nicht rechtzeitig erheben können, liegt darin kein Wiederherstellungsgrund. Karl Rüegg hatte weder der Ausgleichskasse mitgeteilt, wo ihm der Verwaltungsakt während seiner Ferienabwesenheit zugestellt werden könne, noch einen Vertreter beauftragt, nötigenfalls für ihn zu handeln. Aus dieser Versäumnis lassen sich nach dem in Erwägung 2b Gesagten keine Rechte zu seinen Gunsten ableiten. Wenn das kantonale Versicherungsgericht trotzdem die 30tägige Frist wiederherstellte, die Beschwerde als rechtzeitig eingereicht behandelte und auf sie eintrat, so verstiess es gegen Bundesrecht. Da das kantonale Gericht auf die Beschwerde nicht hätte eintreten dürfen, muss sein Entscheid aufgehoben werden.
Dispositiv

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 13. Mai 1976 aufgehoben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 102 V 242
Datum : 26. November 1976
Publiziert : 31. Dezember 1976
Quelle : Bundesgericht
Status : 102 V 242
Sachgebiet : BGE - Sozialversicherungsrecht (bis 2006: EVG)
Gegenstand : Art. 81 IVG, 96 AHVG und 24 VwVG schliessen die Anwendung einer kantonalen Regelung der Wiederherstellung einer Frist aus.


Gesetzesregister
AHVG: 84 
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 84 Besondere Zuständigkeit - Über Beschwerden gegen Verfügungen und Einspracheentscheide kantonaler Ausgleichskassen entscheidet in Abweichung von Artikel 58 Absatz 1 ATSG386 das Versicherungsgericht am Ort der Ausgleichskasse.
85 
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 85
96
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 96
IVG: 69 
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 69 Besonderheiten der Rechtspflege - 1 In Abweichung von den Artikeln 52 und 58 ATSG414 sind die nachstehenden Verfügungen wie folgt anfechtbar:
1    In Abweichung von den Artikeln 52 und 58 ATSG414 sind die nachstehenden Verfügungen wie folgt anfechtbar:
a  Verfügungen der kantonalen IV-Stellen: direkt vor dem Versicherungsgericht am Ort der IV-Stelle;
b  Verfügungen der IV-Stelle für Versicherte im Ausland: direkt beim Bundesverwaltungsgericht.416
1bis    Das Beschwerdeverfahren bei Streitigkeiten über IV-Leistungen vor dem kantonalen Versicherungsgericht ist kostenpflichtig.417 Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von 200-1000 Franken festgelegt.418
2    Absatz 1bis sowie Artikel 85bis Absatz 3 AHVG419 gelten sinngemäss für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.420
3    Gegen Entscheide der kantonalen Schiedsgerichte nach Artikel 27quinquies kann nach Massgabe des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005421 beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden.422
81
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 81
VwVG: 20 
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 20
1    Berechnet sich eine Frist nach Tagen und bedarf sie der Mitteilung an die Parteien, so beginnt sie an dem auf ihre Mitteilung folgenden Tage zu laufen.
2    Bedarf sie nicht der Mitteilung an die Parteien, so beginnt sie an dem auf ihre Auslösung folgenden Tage zu laufen.
2bis    Eine Mitteilung, die nur gegen Unterschrift des Adressaten oder einer anderen berechtigten Person überbracht wird, gilt spätestens am siebenten Tag nach dem ersten erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt.51
3    Ist der letzte Tag der Frist ein Samstag, ein Sonntag oder ein vom Bundesrecht oder vom kantonalen Recht anerkannter Feiertag, so endet sie am nächstfolgenden Werktag. Massgebend ist das Recht des Kantons, in dem die Partei oder ihr Vertreter Wohnsitz oder Sitz hat.52
22 
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 22
1    Eine gesetzliche Frist kann nicht erstreckt werden.
2    Eine behördlich angesetzte Frist kann aus zureichenden Gründen erstreckt werden, wenn die Partei vor Ablauf der Frist darum nachsucht.
24
SR 172.021 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG) - Verwaltungsverfahrensgesetz
VwVG Art. 24
1    Ist der Gesuchsteller oder sein Vertreter unverschuldeterweise abgehalten worden, binnen Frist zu handeln, so wird diese wieder hergestellt, sofern er unter Angabe des Grundes innert 30 Tagen nach Wegfall des Hindernisses darum ersucht und die versäumte Rechtshandlung nachholt; vorbehalten bleibt Artikel 32 Absatz 2.63
2    Absatz 1 ist nicht anwendbar auf Fristen, die in Patentsachen gegenüber dem Eidgenössischen Institut für geistiges Eigentum zu wahren sind.64
BGE Register
102-V-242 • 86-II-1 • 97-III-7
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
adresse • beschwerdefrist • bundesamt für sozialversicherungen • dauer • entscheid • ferien • formelle rechtskraft • frist • fristerstreckung • gesetzliche frist • gesuchsteller • kantonales recht • postzustellung • rechtsmittel • richterliche behörde • tag • verfügung • versicherungsgericht • vorinstanz