101 IV 321
75. Urteil des Kassationshofes vom 5. Dezember 1975 i.S. S. gegen Generalprokurator des Kantons Bern
Regeste (de):
- Art. 39 Abs. 1
SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG)
SVG Art. 39 - 1 Jede Richtungsänderung ist mit dem Richtungsanzeiger oder durch deutliche Handzeichen rechtzeitig bekannt zu geben. Dies gilt namentlich für:
- Eine beabsichtigte Richtungsänderung ist möglichst frühzeitig bekanntzugeben, doch ist jede Irreführung zu vermeiden.
Regeste (fr):
- Art. 39 al. 1 LCR.
- S'il convient de signaler un changement de direction aussitôt que possible, il faut éviter en revanche d'induire en erreur les autres usagers.
Regesto (it):
- Art. 39 cpv. 1 LCS.
- Un cambiamento di direzione deve essere segnalato con la maggior tempestività possibile, ma in modo da evitare che gli altri utenti della strada siano indotti in errore.
Sachverhalt ab Seite 321
BGE 101 IV 321 S. 321
A.- Am Vormittag des 7. November 1974 fuhr Frau S. mit ihrem Morris 1300 GT auf der ansteigenden Schwarzenburgstrasse in Bern stadtauswärts. Sie beabsichtigte, an der Kreuzung mit der Weissensteinstrasse nach rechts in diese abzubiegen. Als sie sich gut rechts fahrend der Kreuzung näherte, leuchtete an der Signalanlage das Grünlicht auf, worauf Frau S. auf ca. 50-60 km/h beschleunigend weiterfuhr. Sie betätigte bereits ca. 70 m vor der Kreuzung mit der Weissensteinstrasse den rechten Blinker, rund 30 m vor der Einmündung der Lentulusstrasse. Auf dieser näherte sich der Volvo 145 des L. der nach links in die Schwarzenburgstrasse zu fahren beabsichtigte. Da er wartepflichtig war, rollte L. langsam gegen die Einmündung und beobachtete nach beiden Seiten. Als von rechts kein Fahrzeug mehr nahte und von links lediglich der Morris mit eingeschaltetem rechten Blinker daher kam, fuhr L. in die Schwarzenburgstrasse ein in der
BGE 101 IV 321 S. 322
Überzeugung, der Morris wolle in die Lentulusstrasse abbiegen. Frau S. bremste ab, als der Volvo in die Schwarzenburgstrasse bog; geradeaus fahrend erzeugte ihr Wagen eine Bremsspur von 6,7 m und prallte dann auf den Volvo auf. Beide Autos wurden beschädigt.
B.- Das Obergericht des Kantons Bern erklärte am 29. August 1975 Frau S. einer Verletzung von Art. 39 Abs. 1

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 39 - 1 Jede Richtungsänderung ist mit dem Richtungsanzeiger oder durch deutliche Handzeichen rechtzeitig bekannt zu geben. Dies gilt namentlich für: |

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 100 - 1. Bestimmt es dieses Gesetz nicht ausdrücklich anders, so ist auch die fahrlässige Handlung strafbar. |

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 36 - 1 Wer nach rechts abbiegen will, hat sich an den rechten Strassenrand, wer nach links abbiegen will, gegen die Strassenmitte zu halten. |
C.- Beide Verurteilten führen Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
I. Beschwerde S.
1. Nach Art. 39 Abs. 1

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 39 - 1 Jede Richtungsänderung ist mit dem Richtungsanzeiger oder durch deutliche Handzeichen rechtzeitig bekannt zu geben. Dies gilt namentlich für: |
2. Die zeitliche und örtliche Distanz für die richtige Einschaltung des Blinkers ergibt sich in Masseinheiten weder aus einer Rechtsnorm, noch lässt sie sich für alle Fälle einheitlich festsetzen. Je nach der Verkehrssituation wird die Antwort verschieden ausfallen. Oberstes Gebot ist einerseits, den andern Strassenbenützern eine beabsichtigte Richtungsänderung möglichst frühzeitig bekanntzugeben und anderseits jede Irreführung zu vermeiden. Daraus ergeben sich folgende Grundsätze:
a) Wer erst unmittelbar vor oder gar zu Beginn eines Abbiegemanövers blinkt, hat nicht rechtzeitig gehandelt. Er verletzt seine Pflichten kaum weniger als derjenige, der ohne Zeichen abbiegt. b) Je schneller der Verkehr, umso früher ist eine Richtungsänderung anzuzeigen. Je weniger eine Irreführung durch verfrühte Anzeige zu befürchten ist, umso eher kann der Blinker
BGE 101 IV 321 S. 323
eingeschaltet werden. So wird auf der Autobahn vor dem Wechsel aus der Fahrspur in die Überholspur oder vor der Benützung einer Ausfahrt in der Regel schon einige 100 m vorher zu blinken sein. Wer dagegen als langsamer Fahrer auf einer Innerortsstrasse mit vielen Kreuzungen schon etwa 100 m vor dem beabsichtigten Abbiegen blinkt, schafft Unsicherheit und Verwirrung; c) Einen klaren Verstoss gegen Art. 39 Abs. 1

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 39 - 1 Jede Richtungsänderung ist mit dem Richtungsanzeiger oder durch deutliche Handzeichen rechtzeitig bekannt zu geben. Dies gilt namentlich für: |
3. Frau S. hat Art. 39 Abs. 1

SR 741.01 Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SVG) SVG Art. 39 - 1 Jede Richtungsänderung ist mit dem Richtungsanzeiger oder durch deutliche Handzeichen rechtzeitig bekannt zu geben. Dies gilt namentlich für: |
BGE 101 IV 321 S. 324
Volvo schon auf einige Distanz sehen konnte. Sie hätte aus Rücksicht auf dessen Führer mit dem Einschalten des Blinkers warten oder ein bereits eingeschaltetes Blinksignal wieder abstellen müssen (BGE 92 IV 30). Dass andere Fahrer anlässlich des erstinstanzlichen Augenscheins teilweise ebenfalls schon so frühzeitig blinkten, hilft der Beschwerdeführerin nicht. Entweder haben auch diese sich verkehrswidrig verhalten oder sie befanden sich in anderer Situation. Der Gerichtspräsident stellt nämlich nicht fest, ob diese Fahrer eventuell sich in Strassenmitte fahrend der Lentulusstrasse näherten und daher ein Einspuren anzeigen durften, ob sie auf nachfolgende Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen hatten und insbesondere, ob nicht in jenem Zeitraum die übersichtliche Einmündung der Lentulusstrasse frei und somit eine Irreführung ausgeschlossen war.