Urteilskopf

101 Ia 34

8. Urteil vom 12. März 1975 i.S. Leichtnam gegen Appellationshof (I. Zivilkammer) des Kantons Bern.
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Sachverhalt ab Seite 34

BGE 101 Ia 34 S. 34

A.- Der Amtsvormund von Thun, der zum Beistand des ausserehelichen Kindes Gabriela Leichtnam (geb. 5. Mai 1972) ernannt worden war, liess durch Fürsprecher H. P. Schüpbach beim Amtsgericht Thun gegen drei Männer, die angeblich in der kritischen Zeit mit der Kindsmutter
BGE 101 Ia 34 S. 35

intime Beziehungen unterhalten hatten, je eine Vaterschaftsklage einreichen. Als erster wurde Hans Soltermann ins Recht gefasst; die beiden weiteren Klagen gegen Gyula Olay und Peter Zysset wurden einige Monate später, kurz vor Ablauf der Verwirkungsfrist, erhoben. In allen drei Fällen stellte die Klägerin das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und um Beiordnung eines amtlichen Anwaltes. Für die zuerst eingereichte Klage gegen Hans Soltermann wurde das nachgesuchte Armenrecht sofort gewährt. In den beiden andern Fällen blieb das Gesuch einstweilen unbeantwortet, doch wurden von der Klägerin keine Gerichts- oder Beweiskostenvorschüsse verlangt. Nachdem Hans Soltermann aufgrund einer Blutuntersuchung als Vater ausgeschlossen werden konnte, zog die Klägerin die Klage gegen diesen zurück. Das Verfahren wurde gegen Olay und Zysset fortgesetzt, doch ergab die Blutuntersuchung, dass sie als Erzeuger ebenfalls auszuschliessen waren, worauf der Anwalt auch diese beiden Vaterschaftsklagen zurückzog "unter Vorbehalt des Kostenentscheides". Das Amtsgericht Thun erklärte die beiden Verfahren am 23. September 1974 als durch Rückzug erledigt und wies gleichzeitig die hiefür am 14. Dezember 1973 gestellten Armenrechtsgesuche wegen Aussichtslosigkeit der Streitsache ab. Im Verfahren gegen Zysset wurden die gesamten Prozesskosten dem Kinde auferlegt. Im Verfahren gegen Olay wurden die Gerichts- und Parteikosten wettgeschlagen mit der Begründung, der Beklagte habe den Geschlechtsverkehr mit der Kindsmutter zugegeben.
B.- Namens des Kindes wurde die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege beim Appellationshof des Kantons Bern angefochten. Dieser trat auf die beiden Rekurse nicht ein, führte in den Erwägungen seiner Urteile vom 26. und 28. November 1974 aber aus, dass sie materiell unbegründet wären.
C.- Gabriela Leichtnam führt hiegegen wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV staatsrechtliche Beschwerde. Sie beklagt sich über überspitzten Formalismus und rügt eine Verletzung des unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV fliessenden Armenrechtsanspruches. Der Appellationshof beantragt Abweisung der Beschwerde.
BGE 101 Ia 34 S. 36

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Nach Art. 81 Abs. 1
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 81 Grundsätze - 1 Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterliegens gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit der Hauptklage befasst ist, geltend machen.
1    Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterliegens gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit der Hauptklage befasst ist, geltend machen.
2    Die streitberufene Person kann keine weitere Streitverkündungsklage erheben.
3    Im vereinfachten und im summarischen Verfahren ist die Streitverkündungsklage unzulässig.
der bernischen Zivilprozessordnung (ZPO) können die Entscheide des Gerichtspräsidenten und des Amtsgerichtes über die Verweigerung und den Entzug des Rechtes auf unentgeltliche Prozessführung binnen zehn Tagen seit der Eröffnung mit Rekurs an den Appellationshof weitergezogen werden, "wenn die Hauptsache appellabel ist". Der Appellationshof erachtete diese Voraussetzung in den vorliegenden Verfahren nicht als gegeben, weil es infolge des Klagerückzuges an einem appellabeln Hauptprozess fehle. Diese Auffassung hält vor Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV nicht stand. Die Betrachtungsweise des Appellationshofes liesse sich dann vertreten, wenn das klagende Kind das Armenrechtsgesuch gleichzeitig mit dem Klagerückzug eingereicht hätte. Dies trifft jedoch nicht zu. Im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuches war die Hauptsache, nämlich die Klage auf Zusprechung von Leistungen aus Art. 317
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 317 - Die Kantone sichern durch geeignete Vorschriften die zweckmässige Zusammenarbeit der Behörden und Stellen auf dem Gebiet des zivilrechtlichen Kindesschutzes, des Jugendstrafrechts und der übrigen Jugendhilfe.
ZGB, hängig und "appellabel". Dass das Verfahren nachher mit einem nicht appellabeln Abschreibungsbeschluss endete, kann auf die Rekursmöglichkeit gegen den Armenrechtsentscheid keinen Einfluss haben. Der Appellationshof erblickte einen weiteren Nichteintretensgrund darin, dass die Klägerin in ihren Rekursen nicht genau angegeben habe, inwieweit der erstinstanzliche Entscheid abzuändern sei. Das Amtsgericht Thun hat in seinen beiden Abschreibungsbeschlüssen vom 23. September 1974 das am 14. Dezember 1973 gestellte Armenrechtsgesuch abgewiesen und hernach die Kostenverteilung aufgrund der allgemeinen Regeln vorgenommen. In der Rekurseingabe vom 30. September 1974 wurde das Begehren gestellt, es sei der Klägerin die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen. Das lässt sich ohne weiteres dahin verstehen, dass am Armenrechtsgesuch vom 14. Dezember 1973 festgehalten werde und die im Abschreibungsbeschluss des Amtsgerichtes getroffene Kostenregelung dementsprechend zu korrigieren sei. Jedenfalls war das Rekursbegehren nicht derart unklar, dass es angängig wäre, auf das Rechtsmittel überhaupt nicht einzutreten. Schliesslich ist auch nicht ersichtlich, wieso das Armenrechtsgesuch durch den Rückzug der Klagen gegenstandslos geworden sein soll. Wohl hatte die Klägerin während der Dauer der beiden Verfahren keine Vorschüsse zu leisten; sie
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hat jedoch an einer nachträglichen Bewilligung des Gesuches insoweit ein Interesse, als sie bei Gewährung des Armenrechtes die ihr auferlegten und einstweilen vom Staat übernommenen Gerichts- und Anwaltskosten nur unter den besonderen Voraussetzungen gemäss Art. 82 Abs. 3
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 82 Verfahren - 1 Die Zulassung der Streitverkündungsklage ist mit der Klageantwort oder mit der Replik im Hauptprozess zu beantragen. Die Rechtsbegehren, welche die streitverkündende Partei gegen die streitberufene Person zu stellen gedenkt, sind zu nennen und kurz zu begründen.
1    Die Zulassung der Streitverkündungsklage ist mit der Klageantwort oder mit der Replik im Hauptprozess zu beantragen. Die Rechtsbegehren, welche die streitverkündende Partei gegen die streitberufene Person zu stellen gedenkt, sind zu nennen und kurz zu begründen.
2    Das Gericht gibt der Gegenpartei sowie der streitberufenen Person Gelegenheit zur Stellungnahme.
3    Wird die Streitverkündungsklage zugelassen, so bestimmt das Gericht Zeitpunkt und Umfang des betreffenden Schriftenwechsels; Artikel 125 bleibt vorbehalten.
4    Der Entscheid über die Zulassung der Klage ist mit Beschwerde anfechtbar.
ZPO nachzuzahlen hat. In der Feststellung des Appellationshofes, der Klägerin stehe kein Rekursrecht mehr zu, liegt eine formelle Rechtsverweigerung.
2. Von der Aufhebung der angefochtenen Rechtsmittelentscheide könnte dann abgesehen werden, wenn die Eventualerwägung des Appellationshofes, in der er die Rekurse auch als materiell unbegründet bezeichnete, sachlich haltbar wäre, da in diesem Fall eine Gutheissung der Beschwerde wegen formeller Rechtsverweigerung nur zu einer unnützen Verlängerung des Verfahrens führen würde (BGE 99 Ia 415). Der Appellationshof vertritt die Auffassung, dass in einer Vaterschaftssache wie der vorliegenden, wo der Mehrverkehr der Mutter eindeutig sei, erst aufgrund einer Expertise abgeklärt werden könne, ob die Prozessaussichten für die Gewährung des Armenrechts hinreichend seien. Das vorläufige Kostenrisiko bis zur Abklärung der materiellen Aussichtslosigkeit habe die gesuchstellende Partei zu tragen. Es wäre für den Staat untragbar, in allen solchen Fällen die entsprechenden Beweiskosten durch Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege vorzuschiessen, um dann bei Vorliegen des Gutachtens nachträglich feststellen zu müssen, dass die Vaterschaft ausgeschlossen und der anhängig gemachte oder beabsichtigte Prozess deshalb aussichtslos sei. Mit dem nachträglichen Entzug des Armenrechts sei diesem Umstand nicht beizukommen. Diese Argumentation hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Es gehört zum Wesen eines Prozesses, dass sich die Erfolgsaussichten nach der Beweisaufnahme klären. Dürfte mit der Beurteilung und allfälligen Gewährung des Armenrechtes bis zu diesem Prozessstadium zugewartet werden, so würde das Rechtsinstitut weitgehend seines Gehaltes entleert. Richtigerweise ist über das Armenrechtsgesuch aufgrund der Verhältnisse zu entscheiden, die im Zeitpunkt seiner Einreichung gegeben sind. Aus der bernischen ZPO ergibt sich nichts anderes, und eine gegenteilige Regelung widerspräche auch Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV. Erweist sich das Klagebegehren im Laufe des Verfahrens nachträglich als aussichtslos, so kann das Armenrecht
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für die künftige Prozessführung entzogen werden. Der gesetzliche und verfassungsmässige Armenrechtsanspruch kann nicht praktisch dadurch teilweise aufgehoben werden, dass der Entscheid über das Gesuch hinausgeschoben wird, um es gegebenenfalls aufgrund der erhobenen Beweise wegen Aussichtslosigkeit des Prozesses rückwirkend abweisen zu können. In den angefochtenen Urteilen wird nicht behauptet, die beiden Vaterschaftsprozesse gegen Olay und Zysset seien von Anfang an aussichtslos gewesen. Seitdem die Rechtsprechung Art. 315
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 315 - 1 Die Kindesschutzmassnahmen werden von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet.438
1    Die Kindesschutzmassnahmen werden von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet.438
2    Lebt das Kind bei Pflegeeltern oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern oder liegt Gefahr im Verzug, so sind auch die Behörden am Ort zuständig, wo sich das Kind aufhält.
3    Trifft die Behörde am Aufenthaltsort eine Kindesschutzmassnahme, so benachrichtigt sie die Wohnsitzbehörde.
ZGB nur noch mit grosser Zurückhaltung anwendet und auch bei Mehrverkehr der Kindsmutter den Nachweis der Vaterschaft mittels wissenschaftlicher Methoden zulässt, kann es durchaus sinnvoll sein, dass die mit der Wahrung der Kindesinteressen betraute Behörde die verschiedenen möglichen Väter gleichzeitig einklagt, um innert der gesetzlichen Frist den wirklichen Erzeuger belangen zu können. Dass ein solches Vorgehen im vorliegenden Fall aufgrund der konkreten Verhältnisse unvernünftig und missbräuchlich war, ist nicht dargetan. Die objektive Aussichtslosigkeit trat erst nach Einholung der gerichtlichen Blutexpertise zu Tage. Die rückwirkende Verweigerung des Armenrechtes für das gesamte Verfahren war daher nicht gerechtfertigt.
Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Urteile des bernischen Appellationshofes (1. Zivilkammer) vom 26. November 1974 i.S. Leichtnam gegen Olay und vom 28. November 1974 i.S. Leichtnam gegen Zysset werden aufgehoben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 101 IA 34
Datum : 12. März 1975
Publiziert : 31. Dezember 1976
Quelle : Bundesgericht
Status : 101 IA 34
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Art. 4 BV; unentgeltliche Rechtspflege. Ob der Prozess genügende Erfolgsaussichten hat, beurteilt sich nach den Verhältnissen


Gesetzesregister
BV: 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
ZGB: 315 
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 315 - 1 Die Kindesschutzmassnahmen werden von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet.438
1    Die Kindesschutzmassnahmen werden von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet.438
2    Lebt das Kind bei Pflegeeltern oder sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern oder liegt Gefahr im Verzug, so sind auch die Behörden am Ort zuständig, wo sich das Kind aufhält.
3    Trifft die Behörde am Aufenthaltsort eine Kindesschutzmassnahme, so benachrichtigt sie die Wohnsitzbehörde.
317
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 317 - Die Kantone sichern durch geeignete Vorschriften die zweckmässige Zusammenarbeit der Behörden und Stellen auf dem Gebiet des zivilrechtlichen Kindesschutzes, des Jugendstrafrechts und der übrigen Jugendhilfe.
ZPO: 81 
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 81 Grundsätze - 1 Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterliegens gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit der Hauptklage befasst ist, geltend machen.
1    Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterliegens gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit der Hauptklage befasst ist, geltend machen.
2    Die streitberufene Person kann keine weitere Streitverkündungsklage erheben.
3    Im vereinfachten und im summarischen Verfahren ist die Streitverkündungsklage unzulässig.
82
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 82 Verfahren - 1 Die Zulassung der Streitverkündungsklage ist mit der Klageantwort oder mit der Replik im Hauptprozess zu beantragen. Die Rechtsbegehren, welche die streitverkündende Partei gegen die streitberufene Person zu stellen gedenkt, sind zu nennen und kurz zu begründen.
1    Die Zulassung der Streitverkündungsklage ist mit der Klageantwort oder mit der Replik im Hauptprozess zu beantragen. Die Rechtsbegehren, welche die streitverkündende Partei gegen die streitberufene Person zu stellen gedenkt, sind zu nennen und kurz zu begründen.
2    Das Gericht gibt der Gegenpartei sowie der streitberufenen Person Gelegenheit zur Stellungnahme.
3    Wird die Streitverkündungsklage zugelassen, so bestimmt das Gericht Zeitpunkt und Umfang des betreffenden Schriftenwechsels; Artikel 125 bleibt vorbehalten.
4    Der Entscheid über die Zulassung der Klage ist mit Beschwerde anfechtbar.
BGE Register
101-IA-34 • 99-IA-415
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