Tribunal administratif fédéral
Tribunale amministrativo federale
Tribunal administrativ federal
Abteilung V
E-5321/2007
{T 0/2}
Urteil vom 22. September 2010
Besetzung
Richter Bruno Huber (Vorsitz),
Richter Kurt Gysi,
Richter Maurice Brodard,
Gerichtsschreiber Peter Jaggi.
Parteien
A._____, geboren (...),
und deren Sohn
B._____, geboren (...),
Russland,
vertreten durch lic. iur. Dominik Löhrer, Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende,
Beschwerdeführerin,
gegen
Bundesamt für Migration (BFM),
Quellenweg 6, 3003 Bern,
Vorinstanz.
Gegenstand
Asyl und Wegweisung;
Verfügung des BFM vom 12. Juli 2007 / N (...).
Sachverhalt:
A.
Die Beschwerdeführerin verliess ihren Heimatstaat gemäss eigenen Angaben zusammen mit ihrem Sohn am 20. August 2005 und gelangte nach einem längeren Aufenthalt bei Verwandten in C._____ (Ukraine) am 26. April 2006 in die Schweiz, wo sie am 27. April 2006 für sich und ihren Sohn um Asyl nachsuchte. Am 8. Mai 2006 erfolgte im D._____ die Kurzbefragung, am 4. Juli und am 8. August 2006 fand die Anhörung zu ihren Asylgründen durch das Migrationsamt des Kantons Zürich statt und am 9. Juli 2007 wurde eine ergänzende Anhörung durch das BFM durchgeführt.
Zur Begründung ihres Asylgesuches machte die Beschwerdeführerin geltend, sie sei russische Staatsangehörige tschetschenischer Ethnie mit letztem Wohnsitz in E._____. Am 13. August 2005 sei ihr Lebensgefährte und Vater ihres seit seiner Geburt (...) Sohnes von maskierten Leuten verschleppt worden; seither gelte er als verschollen. In der Folge seien wiederholt unbekannte Männer zu ihr gekommen, hätten das Haus durchsucht, erfolglos Lösegeld zu erpres-sen versucht und später die Überschreibung ihres Hauses an sie verlangt. Schliesslich sei sie von den Männern bedroht und körperlich angegangen worden. Einer der Männer habe ihren Sohn aus dem Haus gebracht und zu Boden geworfen, sodass ihm Blut über das Ge-sicht geströmt sei. Vor diesem Hintergrund habe sie ihr Heimatland auf Anraten ihrer Verwandten, welche die Ausreise finanziert hätten, verlassen.
Für den Inhalt der weiteren Aussagen wird auf die Akten und, soweit für den Entscheid wesentlich, auf die nachfolgenden Erwägungen ver-wiesen.
Die Beschwerdeführerin reichte im erstinstanzlichen Verfahren verschiedene Dokumente zu den Akten.
B.
Mit Verfügung vom 12. Juli 2007 - eröffnet am 13. Juli 2007 - stellte das BFM fest, die Beschwerdeführerin und ihr Sohn erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht, lehnte ihre Asylgesuche (recte: das Asyl-gesuch der Beschwerdeführerin) vom 27. April 2006 ab und ordnete die Wegweisung aus der Schweiz sowie den Vollzug an.
C.
Mit Rechtsmitteleingabe vom 8. August 2007 beantragte die Beschwer-deführerin durch ihren Rechtsvertreter in materieller Hinsicht die Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung und die Gewährung von Asyl oder jedenfalls die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, eventua-liter unter Anordnung der vorläufigen Aufnahme die Feststellung der Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs, und in prozessualer Hinsicht unter Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses die Ge-währung der unentgeltlichen Rechtspflege. Zur Stützung ihrer Vorbrin-gen liess sie eine Fürsorgeabhängigkeitsbestätigung des Wohnheims Hegifeld in Winterthur vom 6. August 2007 einreichen.
D.
Mit Zwischenverfügung vom 15. August 2007 teilte die vormals zuständige Instruktionsrichterin der Beschwerdeführerin mit, sie dürfe den Ausgang des Verfahrens in der Schweiz abwarten, verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses, verlegte den Entscheid über den Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege auf einen späteren Zeitpunkt und lud die Vorinstanz zur Vernehmlassung innert Frist ein.
E.
Die Vorinstanz hielt in ihrer Vernehmlassung vom 24. August 2007 vollumfänglich an ihren Erwägungen fest und beantragte die Abwei-sung der Beschwerde.
F.
In ihrer Replik vom 14. September 2007 hielt die Beschwerdeführerin mit entsprechender Begründung an den gestellten Rechtsbegehren fest und reichte zwei Dokumente (Wohnsitzbestätigung von E._____, Bestätigung der (...)klinik von E._____) ein.
G.
Am 14. Oktober 2007 liess die Beschwerdeführerin weitere Dokumente (Kopien einer [Wohnsitz-]Bescheinigung der Verwaltung der Stadt E._____, einer Bescheinigung der Klinik (...), E._____, und einer Be-scheinigung des Bezirks (...) einreichen und stellte die Zusendung der Originale dieser Dokumente in Aussicht.
Am 8. November 2007 reichte der Rechtsvertreter die in Aussicht gestellten Originaldokumente samt Zustellcouvert aus dem Ausland ein.
H.
In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 25. Mai 2010 hielt die Vorinstanz vollumfänglich an ihren Erwägungen fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
I.
Die Beschwerdeführerin hielt in ihrer Duplik vom 23. Juni 2010 an den gestellten Rechtsbegehren fest und beantragte die Gutheissung der Beschwerde.
Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 31






1.2 Die Beschwerde ist frist- und formgerecht eingereicht. Die Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt, hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Än-derung und ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 108 Abs. 1





2.
Mit Beschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 106 Abs. 1

3.
3.1 Gemäss Art. 17 Abs. 2



3.2 Mit der Aussage der Beschwerdeführerin anlässlich der kantona-len Anhörung vom 8. August 2006, die drei Männer hätten sie in jener Nacht überall am Körper an allen erdenklichen Stellen unanständig berührt (Akten BFM A7/30 S. 19), lagen konkrete Hinweise auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung (Eingriff in die sexuelle Identität) vor, welche zwingend (EMARK 2003 Nr. 2 E. 5c S.19) Anlass dazu hätten geben müssen, die Schutzvorschrift von Art. 6


3.3 Damit ergibt sich, dass das Bundesamt dadurch, dass es die Beschwerdeführerin trotz klaren Hinweisen auf eine geschlechtsspezifi-sche Verfolgung nicht durch ein reines Frauenteam zu ihren Asylgründen anhören liess, den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt unrichtig respektive unvollständig festgestellt und damit Bundesrecht verletzt hat. Angesichts der formel-len Natur des Anspruchs auf rechtliches Gehör spielt von vornherein keine Rolle, ob die Missachtung der Verfahrensvorschrift von Art. 6

4.
Beschwerden gegen Verfügungen des BFM betreffend die Verweigerung des Asyls und der Anordnung der Wegweisung haben grundsätzlich reformatorischen und nur ausnahmsweise kassatorischen Charakter (Art. 105



5.
Bei dieser Sachlage ist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gutzuheissen. Die Verfügung vom 12. Juli 2007 ist aufzuheben und das BFM anzuweisen, der Beschwerdeführerin das rechtliche Gehör im Sinne der Erwägungen zu gewähren, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig respektive vollständig festzustellen und über das Asylgesuch neu zu entscheiden.
Auf die im Beschwerdeverfahren in reformatorischer Hinsicht gestellten Rechtsbegehren und deren Begründung sowie auf die bisher eingereichten Dokumente ist bei diesem Verfahrensausgang nicht einzugehen, zumal es Sache des Bundesamtes sein wird, sich damit zu befassen.
6.
6.1 Bei diesem Ausgang des Beschwerdeverfahrens sind keine Ver-fahrenskosten aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1

6.2 Die Beschwerdeinstanz kann der ganz oder teilweise obsiegenden Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung für ihr erwachsene notwendige und verhältnismässig hohe Kosten zusprechen (Art. 64 Abs. 1






(Dispositiv nächste Seite)
Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:
1.
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen.
2.
Die Verfügung vom 12. Juli 2007 wird aufgehoben. Das BFM wird angewiesen, der Beschwerdeführerin das rechtliche Gehör im Sinne der Erwägungen zu gewähren, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig respektive vollständig festzustellen und über das Asylgesuch neu zu entscheiden.
3.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
4.
Das BFM hat der Beschwerdeführerin für das Rechtsmittelverfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1200.- zu entrichten.
5.
Dieses Urteil geht an den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin, das BFM und die zuständige kantonale Behörde.
Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:
Bruno Huber Peter Jaggi
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