Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
6B 682/2008/sst

Urteil vom 16. Februar 2009
Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Favre, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Ferrari,
Gerichtsschreiber Störi.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Stefan Schmutz,

gegen

Generalprokurator des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Rückversetzung in den Strafvollzug,

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 1. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.
Am 30. Oktober 2007 verfügte die Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern, der eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verbüssende X.________ werde rückwirkend per 20. August 2007 bedingt aus der Strafanstalt Bostadel entlassen, unter Auferlegung einer Probezeit von einem Jahr. Diese beginne am 5. November 2007 und daure bis zum 4. November 2008. Der Strafrest betrage 6 Monate und 19 Tage. Sie stellte ihn für die Probezeit unter Bewährungshilfe und erteilte ihm die Weisung, die Anordnungen der kantonalen Bewährungshilfe zu befolgen.
Mit "Zwischenbericht mit Antrag auf Verwarnung" vom 23. April 2008 teilte die zuständige Bewährungshelferin der Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug mit, X.________ habe zwei Termine nicht wahrgenommen, seine Situation entwickle sich zunehmend in die falsche Richtung. Es müsse schnell und effizient reagiert werden, da die Rückfallgefahr im Moment hoch zu sein scheine.
Gestützt auf diesen Zwischenbericht beantragte die Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug am 28. April 2008 dem Obergericht des Kantons Bern, die Rückversetzung von X.________ nach Art. 95 Abs. 5
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 95 - 1 Das Gericht und die Strafvollzugsbehörde können vor ihrem Entscheid über Bewährungshilfe und Weisungen einen Bericht der Behörde einholen, die für die Bewährungshilfe, die Kontrolle der Weisungen oder den Vollzug der Tätigkeitsverbote oder der Kontakt- und Rayonverbote zuständig ist.137 Die betroffene Person kann zum Bericht Stellung nehmen. Abweichende Stellungnahmen sind im Bericht festzuhalten.
1    Das Gericht und die Strafvollzugsbehörde können vor ihrem Entscheid über Bewährungshilfe und Weisungen einen Bericht der Behörde einholen, die für die Bewährungshilfe, die Kontrolle der Weisungen oder den Vollzug der Tätigkeitsverbote oder der Kontakt- und Rayonverbote zuständig ist.137 Die betroffene Person kann zum Bericht Stellung nehmen. Abweichende Stellungnahmen sind im Bericht festzuhalten.
2    Die Anordnung von Bewährungshilfe und die Weisungen sind im Urteil oder im Entscheid festzuhalten und zu begründen.
3    Entzieht sich der Verurteilte der Bewährungshilfe oder missachtet er die Weisungen oder sind die Bewährungshilfe oder die Weisungen nicht durchführbar oder nicht mehr erforderlich, so erstattet die zuständige Behörde dem Gericht oder den Strafvollzugsbehörden Bericht.
4    Das Gericht oder die Strafvollzugsbehörde kann in den Fällen nach Absatz 3:
a  die Probezeit um die Hälfte verlängern;
b  die Bewährungshilfe aufheben oder neu anordnen;
c  die Weisungen ändern, aufheben oder neue Weisungen erteilen.
5    Das Gericht kann in den Fällen nach Absatz 3 die bedingte Strafe widerrufen oder die Rückversetzung in den Straf- oder Massnahmenvollzug anordnen, wenn ernsthaft zu erwarten ist, dass der Verurteilte neue Straftaten begeht.
StGB zu prüfen.

B.
Die 2. Strafkammer setzte X.________ durch Publikation im Amtsblatt vom 21. Mai 2008 Frist an, sich zu seiner Rückversetzung in den Strafvollzug zu äussern. Nach deren unbenutztem Ablauf ordnete sie die Durchführung des schriftlichen Verfahrens an und lud den Generalprokurator zur Vernehmlassung ein. Dieser beantragte mit Vernehmlassung vom 24. Juni 2008, X.________ in den Strafvollzug zurückzuversetzen.
Am 1. Juli 2008 ordnete das Obergericht die Rückversetzung von X.________ in den Strafvollzug und den Vollzug der Reststrafe von 6 Monaten und 19 Tagen an.

C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen obergerichtlichen Beschluss aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen, oder eventuell auf eine Rückversetzung des Beschwerdeführers in den Strafvollzug zu verzichten und höchstens Massnahmen im Sinne von Art. 95 Abs. 4
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 95 - 1 Das Gericht und die Strafvollzugsbehörde können vor ihrem Entscheid über Bewährungshilfe und Weisungen einen Bericht der Behörde einholen, die für die Bewährungshilfe, die Kontrolle der Weisungen oder den Vollzug der Tätigkeitsverbote oder der Kontakt- und Rayonverbote zuständig ist.137 Die betroffene Person kann zum Bericht Stellung nehmen. Abweichende Stellungnahmen sind im Bericht festzuhalten.
1    Das Gericht und die Strafvollzugsbehörde können vor ihrem Entscheid über Bewährungshilfe und Weisungen einen Bericht der Behörde einholen, die für die Bewährungshilfe, die Kontrolle der Weisungen oder den Vollzug der Tätigkeitsverbote oder der Kontakt- und Rayonverbote zuständig ist.137 Die betroffene Person kann zum Bericht Stellung nehmen. Abweichende Stellungnahmen sind im Bericht festzuhalten.
2    Die Anordnung von Bewährungshilfe und die Weisungen sind im Urteil oder im Entscheid festzuhalten und zu begründen.
3    Entzieht sich der Verurteilte der Bewährungshilfe oder missachtet er die Weisungen oder sind die Bewährungshilfe oder die Weisungen nicht durchführbar oder nicht mehr erforderlich, so erstattet die zuständige Behörde dem Gericht oder den Strafvollzugsbehörden Bericht.
4    Das Gericht oder die Strafvollzugsbehörde kann in den Fällen nach Absatz 3:
a  die Probezeit um die Hälfte verlängern;
b  die Bewährungshilfe aufheben oder neu anordnen;
c  die Weisungen ändern, aufheben oder neue Weisungen erteilen.
5    Das Gericht kann in den Fällen nach Absatz 3 die bedingte Strafe widerrufen oder die Rückversetzung in den Straf- oder Massnahmenvollzug anordnen, wenn ernsthaft zu erwarten ist, dass der Verurteilte neue Straftaten begeht.
StGB anzuordnen.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Der Beschwerdeführer rügt in formeller Hinsicht eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, da ihm das Obergericht die Aufforderung zur Stellungnahme nicht bzw. nicht rechtsgültig zugestellt und ihn dadurch um die Teilnahme am Rückversetzungsverfahren gebracht habe.

1.1 Falls der Beschwerdeführer mangels korrekter Zustellung von dem gegen ihn laufenden Rückversetzungsverfahren keine Kenntnis hatte und deswegen seine Parteirechte nicht ausüben konnte, liegt darin jedenfalls eine Verletzung seines in Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV verankerten verfassungsmässigen Anspruchs auf rechtliches Gehör. Ob der angefochtene Entscheid diesfalls nichtig wäre, wie das Bundesgericht in dieser Konstellation auch schon angenommen hat (BGE 129 I 361), kann offen bleiben, da ihn der Beschwerdeführer rechtzeitig angefochten hat.

1.2 Die Eröffnung und Zustellung von "Beschlüssen, Urteilen und Anordnungen" ist in den Art. 87 ff. des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 15. März 1995 (StrV) geregelt. Nach Art. 88 Abs. 1 und 2 StrV erfolgt die Zustellung in der Regel per Post, oder, wenn es zweckmässig erscheint, durch die Polizei. Ist der Adressat nicht anwesend, ist die Mitteilung gegen Quittung einem Angehörigen oder Familiengenossen zu übergeben (Abs. 3). Die Zustellung gilt auch dann als erfolgt, wenn sie der Adressat verhindert (Abs. 4). Nach Art. 90 StrV hat die verfahrensbeteiligte Person zudem das Recht, ein Zustelldomizil in der Untersuchungsregion zu bezeichnen. Ist eine für ein Strafverfahren benötigte Person unbekannten Aufenthaltes, kann sie zu dessen Ermittlung polizeilich ausgeschrieben werden (Art. 91 StrV). Nach Art. 92 Abs. 1 StrV erfolgt die Zustellung durch einmalige Veröffentlichung im Amtsblatt, "sofern verfahrensabschliessende Beschlüsse und Entscheide sowie Vorladungen zu gerichtlichen Verhandlungen im Haupt- oder Rechtsmittelverfahren den Parteien oder allenfalls anderen Beteiligten auf ordentlichem Weg nicht zugestellt werden können".

1.3 Die Strafvollzugsbehörden verfügten über eine Zustelladresse des Beschwerdeführers bei seiner Mutter. Die Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug stellte ihm ihre Verfügung vom 30. Oktober 2007 über die bedingte Entlassung ebenso dorthin zu wie die Bewährungshelferin ihren Zwischenbericht mit Antrag auf Verwarnung vom 23. April 2008. In den Akten finden sich keine Hinweise, dass Zustellungen an diese Adresse je gescheitert wären, und der Beschwerdeführer hat sie gegenüber den Strafvollzugsbehörden nie abgemeldet. Aus dem erwähnten Zwischenbericht der Bewährungshelferin lässt sich ebenfalls nicht ableiten, dass der Beschwerdeführer diese Zustelladresse aufgegeben hätte. Daraus ergibt sich nur, dass er zwischen dem 23. März und dem 20. April 2008 nicht bei seiner Mutter wohnte, aber immerhin sporadisch den Kontakt mit ihr aufrechterhielt.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die zuständigen Strafvollzugsbehörden über eine Zustelladresse verfügten, welche das Obergericht leicht den Akten hätte entnehmen können. Damit waren die Voraussetzungen von Art. 92 StrV für die Zustellung von Gerichtsurkunden an den Beschwerdeführer auf dem Wege der Publikation im Amtsblatt offensichtlich nicht gegeben. Das Obergericht wäre verpflichtet gewesen, ihm Gerichtsurkunden an diese Adresse zuzustellen. Diese Zustellung wäre rechtsgültig gewesen, auch wenn er die Post bei seiner Mutter nicht abgeholt hätte (Art. 88 Abs. 4 StrV). Da die fehlerhafte Zustellung im Ergebnis dazu führte, dass der Beschwerdeführer im Rückversetzungsverfahren seine Parteirechte nicht wahrnehmen konnte, ist der angefochtene Entscheid ohne weiteres wegen Verletzung von Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV aufzuheben. Die Rüge ist begründet.

2.
Der angefochtene Entscheid ist somit aus diesem formellen Grund aufzuheben, ohne dass er inhaltlich zu prüfen wäre. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 66 Erhebung und Verteilung der Gerichtskosten - 1 Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
1    Die Gerichtskosten werden in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Wenn die Umstände es rechtfertigen, kann das Bundesgericht die Kosten anders verteilen oder darauf verzichten, Kosten zu erheben.
2    Wird ein Fall durch Abstandserklärung oder Vergleich erledigt, so kann auf die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden.
3    Unnötige Kosten hat zu bezahlen, wer sie verursacht.
4    Dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen dürfen in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis, ohne dass es sich um ihr Vermögensinteresse handelt, das Bundesgericht in Anspruch nehmen oder wenn gegen ihre Entscheide in solchen Angelegenheiten Beschwerde geführt worden ist.
5    Mehrere Personen haben die ihnen gemeinsam auferlegten Gerichtskosten, wenn nichts anderes bestimmt ist, zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung zu tragen.
BGG), und der Kanton Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern vom 1. Juli 2008 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Bern hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Februar 2009
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Favre Störi
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 6B_682/2008
Date : 16. Februar 2009
Published : 06. März 2009
Source : Bundesgericht
Status : Unpubliziert
Subject area : Straf- und Massnahmenvollzug
Subject : Rückversetzung in den Strafvollzug


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BGG: 66
BV: 29
StGB: 95
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129-I-361
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