Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6B 125/2011
Urteil vom 7. Juli 2011
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Gerichtsschreiber Borner.
Verfahrensbeteiligte
J.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Lisa Zaugg,
Beschwerdeführer,
gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Fristwiederherstellung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 18. Februar 2011.
Sachverhalt:
A.
Am 31. Dezember 2005 endete die Aufenthaltsbewilligung von J.________, weshalb er auf diesen Zeitpunkt die Schweiz hätte verlassen müssen. Nach seinen Angaben konnte er nicht rechtzeitig ausreisen, weil sich die Erneuerung seines abgelaufenen serbischen Passes verzögert hatte. Als er am 25. Januar 2006 auf der Gemeinde F.________ vorsprach, wurde er verhaftet. Nachdem ihm eröffnet worden war, dass er wegen illegalen Aufenthalts in der Schweiz zur Anzeige gebracht werde, wurde er nach Serbien ausgeschafft.
Das Bezirksamt Baden verurteilte J.________ am 14. September 2006 wegen illegalen Aufenthalts in der Schweiz zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 30 Tagen und widerrief den bedingten Strafvollzug einer Gefängnisstrafe von 60 Tagen aus dem Jahre 2004 wegen ANAG-Vergehens. Die Zustellung des Strafbefehls vollzog das Amt, indem es diesen am 2. Oktober 2006 im Amtsblatt veröffentlichte.
Am 5. Januar 2011 reiste J.________ in die Schweiz ein. Er wurde sofort verhaftet und dem Strafvollzug zugeführt.
B.
J.________ stellte am 26. Januar 2011 ein Gesuch um Wiederherstellung der Einsprachefrist gegen den Strafbefehl vom 14. September 2006.
Die Staatsanwaltschaft Baden wies das Gesuch am 31. Januar 2011 ab. Eine Beschwerde des Gesuchstellers wies das Obergericht des Kantons Aargau am 18. Februar 2011 ab, soweit es darauf eintrat.
C.
J.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt sinngemäss, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Einsprachefrist gegen den Strafbefehl vom 14. September 2006 sei wiederherzustellen.
Erwägungen:
1.
Hat eine Partei eine Frist versäumt und würde ihr daraus ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen, so kann sie die Wiederherstellung der Frist verlangen; dabei hat sie glaubhaft zu machen, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft (Art. 94 Abs. 1
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 94 Wiederherstellung - 1 Hat eine Partei eine Frist versäumt und würde ihr daraus ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen, so kann sie die Wiederherstellung der Frist verlangen; dabei hat sie glaubhaft zu machen, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft. |
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1 | Hat eine Partei eine Frist versäumt und würde ihr daraus ein erheblicher und unersetzlicher Rechtsverlust erwachsen, so kann sie die Wiederherstellung der Frist verlangen; dabei hat sie glaubhaft zu machen, dass sie an der Säumnis kein Verschulden trifft. |
2 | Das Gesuch ist innert 30 Tagen nach Wegfall des Säumnisgrundes schriftlich und begründet bei der Behörde zu stellen, bei welcher die versäumte Verfahrenshandlung hätte vorgenommen werden sollen. Innert der gleichen Frist muss die versäumte Verfahrenshandlung nachgeholt werden. |
3 | Das Gesuch hat nur aufschiebende Wirkung, wenn die zuständige Behörde sie erteilt. |
4 | Über das Gesuch entscheidet die Strafbehörde in einem schriftlichen Verfahren. |
5 | Die Absätze 1-4 gelten sinngemäss bei versäumten Terminen. Wird die Wiederherstellung bewilligt, so setzt die Verfahrensleitung einen neuen Termin fest. Die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren bleiben vorbehalten. |
National- und Ständerat ersetzten ursprünglich mildere Formulierungen wie "kein grobes Verschulden" (Art. 107 Abs. 1 VE StPO) und "kein oder nur ein leichtes Verschulden" (Art. 92 Abs. 1 E
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 92 Erstreckung von Fristen und Verschiebung von Terminen - Die Behörden können von Amtes wegen oder auf Gesuch hin die von ihnen angesetzten Fristen erstrecken und Verhandlungstermine verschieben. Das Gesuch muss vor Ablauf der Frist gestellt werden und hinreichend begründet sein. |
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 92 Erstreckung von Fristen und Verschiebung von Terminen - Die Behörden können von Amtes wegen oder auf Gesuch hin die von ihnen angesetzten Fristen erstrecken und Verhandlungstermine verschieben. Das Gesuch muss vor Ablauf der Frist gestellt werden und hinreichend begründet sein. |
Allgemein wird vorausgesetzt, dass es dem Betroffenen in seiner konkreten Situation unmöglich war, die fragliche Frist zu wahren oder mit der Fristwahrung einen Dritten zu betrauen (CHRISTOF RIEDO, Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Art. 94 N. 35 mit Hinweisen).
1.1 Die Vorinstanz erwägt unter anderem, der Beschwerdeführer könne nicht ernsthaft behaupten, er habe nicht mit einem Strafbefehl rechnen müssen. Es seien Abklärungen zur Person erfolgt, und er sei als Beschuldigter zur Sache befragt worden. Auch sei ihm die Anzeige an das Bezirksamt Baden eröffnet worden. Gestützt darauf und angesichts seiner Vorstrafe wegen Vergehens gegen das ANAG in den Jahren 2000 bis 2003 habe er sehr wohl mit einem entsprechenden Strafbefehl rechnen müssen. Hätte er eine Zustellung auf dem Weg der Publikation verhindern wollen, wäre es an ihm gelegen, den Behörden eine Zustelladresse mitzuteilen (angefochtener Entscheid S. 6 Ziff. 4.2).
Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei sich "alles andere denn einer strafrechtlich relevanten Schuld bewusst" gewesen, sondern habe sich unschuldig verhaftet und in eine Strafuntersuchung involviert gefühlt, da er sich in einer rechtfertigenden Pflichtenkollision (Ausreiseverfügung - fehlender Reisepass) befunden habe. Dass ihm kein Strafbefehl ausgehändigt worden sei, dürfte für ihn ein Indiz seiner Straflosigkeit gewesen sein (Beschwerdeschrift, S. 4 unten).
1.2 Als die Behörden den Beschwerdeführer am 25. Januar 2006 verhafteten, klärten sie dessen Personalien ab, befragten ihn als Angeschuldigten zur Sache und eröffneten ihm, dass er wegen illegalen Aufenthalts in der Schweiz beim Bezirksamt verzeigt werde. Bereits in den Jahren 2003/2004 war der Beschwerdeführer in ein Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen Art. 23 Abs. 1
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung StPO Art. 92 Erstreckung von Fristen und Verschiebung von Terminen - Die Behörden können von Amtes wegen oder auf Gesuch hin die von ihnen angesetzten Fristen erstrecken und Verhandlungstermine verschieben. Das Gesuch muss vor Ablauf der Frist gestellt werden und hinreichend begründet sein. |
Angesichts dieser persönlichen Erfahrungen musste der Beschwerdeführer damit rechnen, dass auch die Verzeigung beim Bezirksamt Baden mit einem Sachentscheid (Einstellung, Freispruch oder Verurteilung) seinen Abschluss finden werde. Dass er sich in einer "rechtfertigenden Pflichtenkollision" befunden haben will, welche das Verfahren hätte hinfällig werden lassen, überzeugt nicht. Im Gegenteil war seine Ausweisung ein klarer Fingerzeig, dass die Behörde seine Ansicht nicht teilte. Ansonsten hätte sie ihn nicht ausgeschafft.
Es trifft zwar zu, dass die Behörde den Beschwerdeführer darauf hätte aufmerksam machen können, ein Zustelldomizil anzugeben und auch die Folgen eines Unterlassens zu bedenken. Das wäre wünschenswert, um allfälligen Unklarheiten vorzubeugen und unnötige Verfahren zu vermeiden. Doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Erfahrungen damit rechnen musste, das Verfahren werde mit einer Verfügung beendet. Als sorgsame Person hätte er etwas unternehmen müssen, um von der Verfügung Kenntnis nehmen zu können. Im Ergebnis ist die vorinstanzliche Beurteilung nicht zu beanstanden.
2.
Der Beschwerdeführer stellt in Frage, ob überhaupt ein Strafbefehl hätte erlassen werden dürfen, und beanstandet die Modalitäten der Eröffnung. Diese Fragen betreffen den Sachentscheid, nicht jedoch die Fristwiederherstellung. Darauf ist nicht einzutreten.
3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da seine Begehren von vornherein aussichtslos erschienen, ist das Gesuch abzuweisen (Art. 64 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz BGG Art. 64 Unentgeltliche Rechtspflege - 1 Das Bundesgericht befreit eine Partei, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, auf Antrag von der Bezahlung der Gerichtskosten und von der Sicherstellung der Parteientschädigung, sofern ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. |
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1 | Das Bundesgericht befreit eine Partei, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, auf Antrag von der Bezahlung der Gerichtskosten und von der Sicherstellung der Parteientschädigung, sofern ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. |
2 | Wenn es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, bestellt das Bundesgericht der Partei einen Anwalt oder eine Anwältin. Der Anwalt oder die Anwältin hat Anspruch auf eine angemessene Entschädigung aus der Gerichtskasse, soweit der Aufwand für die Vertretung nicht aus einer zugesprochenen Parteientschädigung gedeckt werden kann. |
3 | Über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege entscheidet die Abteilung in der Besetzung mit drei Richtern oder Richterinnen. Vorbehalten bleiben Fälle, die im vereinfachten Verfahren nach Artikel 108 behandelt werden. Der Instruktionsrichter oder die Instruktionsrichterin kann die unentgeltliche Rechtspflege selbst gewähren, wenn keine Zweifel bestehen, dass die Voraussetzungen erfüllt sind. |
4 | Die Partei hat der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist. |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 7. Juli 2011
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Mathys Borner