Tribunale federale
Tribunal federal

6S.152/2006 /hum
{T 0/2}

Urteil vom 3. August 2006
Kassationshof

Besetzung
Bundesrichter Wiprächtiger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Kolly, Zünd,
Gerichtsschreiber Thommen.

Parteien
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Marc Spescha,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8090 Zürich.

Gegenstand
Zuwiderhandlung gegen das BG über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer,

Nichtigkeitsbeschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer,
vom 7. Februar 2006.

Sachverhalt:
A.
Mit Urteil des Bezirksgerichts Uster vom 4. Mai 2004 wurde X.________ wegen Missachtung einer Ausreisefrist (15. November 2002) der Zuwiderhandlung gegen fremdenpolizeiliche Vorschriften für schuldig befunden und in Anwendung von Art. 12 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 6 ANAG mit Fr. 300.-- Busse bestraft.

Eine gegen dieses Urteil erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich am 7. Februar 2006 ab.
B.
Dagegen erhebt X.________ eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, den Beschluss aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem verlangt er die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
C.
Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine Stellungnahme. Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer macht zusammenfassend geltend, dass die Vorinstanz in Verkennung eines prozessualen Anwesenheitsrechts eine Zuwiderhandlung gegen eine fremdenpolizeiliche Verfügung angenommen und damit Art. 23 Abs. 6 ANAG verletzt habe.
1.1 Der von der Vorinstanz geschützten Verurteilung liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Mit Verfügung vom 5. Dezember 2000 wies die Fremdenpolizei des Kantons Zürich die Gesuche des Beschwerdeführers und seiner Familie um Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung ab und setzte ihm zum Verlassen des zürcherischen Kantonsgebietes eine Frist bis 25. Februar 2001. Einen Rekurs gegen diese Verfügung wies der Regierungsrat des Kantons Zürich am 5. September 2001 ab. In der Folge setzte ihm das Migrationsamt des Kantons Zürich bis zum 30. November 2001 Frist zum Verlassen des Kantonsgebiets. Den Entscheid des Regierungsrates vom 5. September 2001 zog der Beschwerdeführer an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich weiter. Die Wegweisung konnte deshalb vorerst keine Rechtswirkung entfalten. Am 13. März 2002 beschloss das Verwaltungsgericht, auf dieses Rechtsmittel nicht einzutreten. Auf eine dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde trat das Bundesgericht nicht ein (Urteil 2A.188/2002 vom 2. Mai 2002). Am 21. Juni 2002 ersuchte der Beschwerdeführer das Migrationsamt, die ursprüngliche Verfügung vom 5. Dezember 2000 in Wiedererwägung zu ziehen. Am 30. September 2002 teilte das Migrationsamt dem Beschwerdeführer mit, dass ein
veränderter Sachverhalt nicht vorliege, weshalb auf das Begehren nicht eingetreten werde. Am folgenden Tag erteilte das Migrationsamt der Kantonspolizei Zürich den Auftrag, den Beschwerdeführer protokollarisch über die Gründe der Nichtausreise zu befragen und ihm eine neue kurz bemessene Ausreisefrist (ca. drei Tage) zu setzen unter Androhung polizeilicher Ausschaffung bei erneuter Nichtbeachtung. Mit Schreiben vom 21. Oktober 2002 verlangte der Beschwerdeführer vom Migrationsamt den Erlass eines förmlichen Wiedererwägungsentscheids. Am 12. November 2002 wurde er von der Kantonspolizei befragt und aufgefordert, die Schweiz bis 15. November 2002 zu verlassen. Diese Ausreisefrist verstrich unbenützt. Am 26. November 2002 wurde er über die Gründe der Missachtung der erneuten Ausreisefrist befragt und verzeigt. Am 18. Dezember 2002 erliess das Migrationsamt zwei förmliche Nichteintretensverfügungen in Bezug auf das Wiedererwägungsgesuch und ordnete die unverzügliche Ausreise an. Am 21. Januar 2003 erhob er gegen diese Nichteintretensverfügungen Rekurs an den Regierungsrat. Am folgenden Tag verfügte die Staatskanzlei des Kantons Zürich, dass bis zum Entscheid in der Sache alle Vollziehungsvorkehrungen zu unterbleiben hätten. Am 29.
April 2003 erging die Strafverfügung des Statthalteramts des Bezirks Uster. Am 23. Juli 2003 hiess der Regierungsrat den Rekurs in Bezug auf den inzwischen volljährig gewordenen Sohn des Beschwerdeführers gut; im Übrigen wies es ihn ab.
1.2 Der von der Vorinstanz geschützten Verurteilung liegt die Auffassung zugrunde, dass der Aufenthalt zwischen dem Ablaufen der Ausreisefrist am 15. November 2002 und dem einstweiligen Vollziehungsverbot durch die Staatskanzlei am 22. Januar 2003 unrechtmässig war. Umstritten ist die Aufenthaltsberechtigung in dieser Periode.
1.2.1 Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, dass ab der Einreichung des Wiedererwägungsgesuchs am 21. Juni 2002 eine prozessuale Anwesenheitsberechtigung bestanden habe (Beschwerde S. 11). Indem das Migrationsamt erst nach über drei Monaten zum Wiedererwägungsgesuch Stellung nahm, habe es damit zum Ausdruck gebracht, dass die rasche Vollstreckung des bereits am 5. Dezember 2000 gefällten Sachentscheids nicht geboten war. Damit habe sie ein Vertrauen in den Bestand einer Aufenthaltsberechtigung begründet. Für den Beschwerdeführer sei deshalb die Widerrechtlichkeit seines Verbleibs über die polizeilich gesetzte Ausreisefrist vom 15. November 2002 hinaus nicht erkennbar gewesen. Mangels klarer Erkennbarkeit einer gesetzlichen Grundlage sei Art. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 1 - Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt.
StGB in seiner Garantiefunktion verletzt. Selbst wenn man eine tatbestandsmässige Verletzung der Verbotsnorm bejahen wollte, sei sein Verbleib unter dem Gesichtspunkt der Wahrung berechtigter Interessen gerechtfertigt gewesen.
1.2.2 Die Vorinstanz erwägt, dass erst der Entscheid der Staatskanzlei vom 22. Januar 2003 ein prozessuales Anwesenheitsrecht begründet habe. Dieses einstweilige Vollziehungsverbot wirke jedoch nicht zurück auf den Zeitpunkt der Einreichung des Wiedererwägungsgesuchs. Die Gewährung aufschiebender Wirkung gelte ihrem Zweck nach für die Zukunft und nicht rückwirkend.
1.2.3 Der Ausländer ist gemäss Art. 12 Abs. 3 ANAG unter anderem zur Ausreise verpflichtet, wenn ihm die Verlängerung einer Bewilligung verweigert wird. Zwangsläufige Folge dieser Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung ist die Wegweisung. Die Behörde setzt den Tag, an dem die Aufenthaltsberechtigung aufhört in einer Vollstreckungsverfügung fest (Ausreisefrist). Nach unbenutztem Ablauf der verfügten Ausreisefrist wird der Aufenthalt rechtswidrig. Wird gegen die Nichtverlängerung ein Rechtsmittel eingelegt, so besteht bis zum rechtskräftigen Entscheid ein Anwesenheitsrecht, sofern dem Rechtsmittel aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. BGE 129 II 1, E. 3.1; 131 IV 174, E. 4.4, Andreas Zünd, in: Peter Uebersax et. al. (Hrsg.), Ausländerrecht, Basel etc. 2002, N. 6.8, 6.53). Nach dem Rechtsmittelentscheid über das Aufenthaltsrecht ist in der Regel eine neue Ausreisefrist zu setzen.

Das Wiedererwägungsgesuch ist ein Rechtsbehelf, durch den die Verwaltungsbehörde ersucht wird, auf ihre Verfügung zurückzukommen und sie abzuändern oder aufzuheben. Als blosser Rechtsbehelf vermittelt sie grundsätzlich keinen Anspruch auf Prüfung und Beurteilung (Ulrich Häfelin / Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Zürich 2002, N. 1828 ff.). Haben sich die Umstände seit dem ersten Entscheid wesentlich verändert, besteht ein verfassungsmässiger Anspruch auf Wiedererwägung. Die Wiedererwägung von Verwaltungsentscheiden, die in Rechtskraft erwachsen sind, ist jedoch nicht beliebig zulässig. Sie darf namentlich nicht dazu dienen, rechtskräftige Verwaltungsentscheide immer wieder in Frage zu stellen (BGE 120 Ib 42 E. 2b; 109 Ib 246 E. 4a, m.H.).
1.2.4 Für eine strafrechtliche Verurteilung für Zuwiderhandlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 3 i.V.m. Art. 23 Abs. 6 ANAG muss es in materieller Hinsicht an einem Aufenthaltsrecht fehlen und in formeller Hinsicht eine Ausreisefrist feststehen. Der Beschwerdeführer hat die Verfügung vom 5. Dezember 2000, mit der sein Gesuch um Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung abgewiesen wurde, durch alle Instanzen weitergezogen. Spätestens mit dem Nichteintretensentscheid des Bundesgerichts vom 2. Mai 2002 erwuchs diese Verfügung in Rechtskraft. Damit endete seine Anwesenheitsberechtigung. Am 15. November 2002 liess er sodann eine entgegen seiner Bestreitung von der Fremdenpolizei gültig gesetzte Ausreisefrist unbenutzt verstreichen, womit sein Aufenthalt rechtswidrig wurde. In der Folge wurde er deswegen verzeigt und verurteilt. Diese Verurteilung verletzt kein Bundesrecht. Daran ändert auch sein Wiedererwägungsgesuch nichts, das er rund eineinhalb Monate nach dem bundesgerichtlichen Nichteintretensentscheid stellte und welches seiner Ansicht nach aufschiebende Wirkung entfalten soll. Ob der Beschwerdeführer die eben erst in Rechtskraft erwachsene Wegweisungsverfügung materiell bereits wieder in Frage stellen durfte, ist nach der erwähnten
Rechtsprechung zu bezweifeln, braucht jedoch nicht definitiv entschieden zu werden, weil jedenfalls feststeht, dass die von der Staatskanzlei am 22. Januar 2003 verfügte aufschiebende Wirkung - wie die Vorinstanz zu Recht hervorhebt - nur pro futuro wirkte. Es ging lediglich darum, eventuell bevorstehende Vollzugshandlungen während des Rekursverfahrens einstweilen zu untersagen. An der Rechtswidrigkeit des Verbleibs über die Ausreisefrist vom 15. November 2002 hinaus vermochte das Wiedererwägungsgesuch nichts zu ändern. Dass diese Rechtswidrigkeit für den Beschwerdeführer nicht erkennbar gewesen sein soll, ist angesichts der polizeilich angedrohten Zwangsausschaffung nicht nachvollziehbar. Ebenso wenig sind berechtigte Interessen zum Verbleib ersichtlich. Zusammenfassend ist die Beschwerde abzuweisen.
2.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Da seine Begehren von vornherein aussichtslos waren, ist sein Gesuch abzuweisen (Art. 152 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 1 - Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt.
OG). Dementsprechend hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen (Art. 278 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 1 - Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt.
BStP). Den finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers ist bei der Gebührenfestsetzung Rechnung zu tragen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 3. August 2006
Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 6S.152/2006
Date : 03. August 2006
Published : 14. August 2006
Source : Bundesgericht
Status : Unpubliziert
Subject area : Straftaten
Subject : Zuwiderhandlung gegen das BG über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer


Legislation register
ANAG: 12  23
BStP: 278
OG: 152
StGB: 1
BGE-register
109-IB-246 • 120-IB-42 • 129-II-1 • 131-IV-174
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