VPB 66.8

(Gutachten des Bundesamts für Justiz vom 12. Oktober 2001)

Frage der Anwendbarkeit von Art. 333 Abs. 1 OR in einem Insolvenzverfahren. Swissair.

- Die Frage, ob Art. 333 Abs. 1 OR auch dann Anwendung findet, wenn der Betrieb oder ein Teil davon im Rahmen eines gegen den Arbeitgeber gerichteten Insolvenzverfahren verkauft wird, ist in der Lehre umstritten und musste vom Bundesgericht noch nie entschieden werden.

- Das Bundesamt für Justiz legt Art. 333 Abs. 1 OR anhand des Wortlauts, der Systematik, der Materialien und des Zwecks aus und gelangt zum Schluss, dass die besseren Argumente für die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung in einem Insolvenzverfahren sprechen.

- Voraussetzung für die Nichtanwendbarkeit von Art. 333 Abs. 1 OR in einem Insolvenzverfahren ist allerdings, dass dieses unter behördlicher Aufsicht steht, der Verkäufer und Arbeitgeber mithin nicht frei darüber bestimmen kann, wem und zu welchem Preis er seinen Betrieb oder Teile davon verkaufen will. Auf diese Weise ist am ehesten sichergestellt, dass die Ansprüche der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber, die konkursrechtlich als Forderungen Erster Klasse zu behandeln sind (Art. 219 Abs. 4 SchKG), befriedigt werden. Diese Auslegung von Art. 333 Abs. 1 OR trägt auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Rechnung.

Question de l'application de l'art. 333 al. 1 CO dans une procédure d'exécution forcée. Swissair.

- La question de l'application de l'art. 333 al. 1 CO en cas de vente d'une entreprise ou d'une partie d'entreprise dans le cadre d'une procédure d'exécution forcée dirigée contre l'employeur est contestée dans la doctrine et n'a encore jamais eu à être jugée par le Tribunal fédéral.

- L'Office fédéral de la justice procède à une interprétation littérale, systématique, historique et téléologique de l'art. 333 al. 1 CO et arrive à la conclusion que les arguments en défaveur de l'application de la disposition dans une procédure d'exécution forcée sont les plus convaincants.

- Pour que l'art. 333 al. 1 CO ne s'y applique pas, la procédure d'exécution forcée doit cependant se dérouler sous la surveillance d'une autorité, de telle sorte que l'employeur qui vend son entreprise ou une partie de son entreprise ne puisse déterminer librement à qui et à quel prix la vente va s'effectuer. De cette manière, la satisfaction des prétentions des employés contre leur employeur, considérées comme des créances de première classe en droit de la faillite (art. 219 al. 4 LP), est le mieux garantie. Cette interprétation de l'art. 333 al. 1 CO tient également compte de la jurisprudence de la Cour de Justice des Communautés européennes.

Questione dell'applicabilità dell'art. 333 cpv. 1 CO in una procedura di insolvenza. Swissair.

- La questione relativa all'applicabilità dell'art. 333 cpv. 1 CO, in caso di vendita di un'azienda o di parte di essa nel quadro di una procedura di insolvenza diretta contro il datore di lavoro è controversa nella dottrina e non ha mai dovuto essere risolta dal Tribunale federale.

- L'Ufficio federale della giustizia interpreta l'art. 333 cpv. 1 in base al suo tenore, alla sistematica, ai materiali e allo scopo e giunge alla conclusione che i migliori argomenti sono quelli che parlano in favore dell'inapplicabilità della disposizione nel quadro di una procedura di insolvenza.

- L'inapplicabilità dell'art. 333 cpv. 1 CO in una procedura di insolvenza presuppone tuttavia che quest'ultima abbia luogo sotto la sorveglianza di un'autorità, e che quindi il venditore e datore di lavoro non abbia la possibilità di decidere a chi e a quale prezzo vendere la sua azienda o parte di essa. In tal modo viene meglio garantito che le pretese del lavoratore nei confronti del datore di lavoro, che dal punto di vista del diritto fallimentare sono da considerare crediti di prima classe (art. 219 cpv. 4 LEF), vengano soddisfatte. Questa interpretazione dell'art. 333 cpv. 1 CO tiene ugualmente conto della giurisprudenza della Corte europea.

1. Frage und Aufbau der Stellungnahme

Im Zusammenhang mit dem Plan der Crossair, Teile der Swissair zu übernehmen, gelangte die «Swissair Task Force des Bundes» an das Bundesamt für Justiz (BJ), die Frage der Anwendbarkeit von Art. 333 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 30. März 1911 betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht [OR], SR 220) in einem Insolvenzverfahren zu prüfen.

Art. 333 Abs. 1 OR lautet: «Überträgt der Arbeitgeber den Betrieb oder einen Betriebsteil auf einen Dritten, so geht das Arbeitsverhältnis mit allen Rechten und Pflichten mit dem Tage der Betriebsnachfolge auf den Erwerber über, sofern der Arbeitnehmer den Übergang nicht ablehnt.»

Zu beantworten ist im Folgenden die Frage, ob Art. 333 Abs. 1 OR auch dann Anwendung findet, wenn ein Betrieb (oder Betriebsteil) im Rahmen eines Insolvenzverfahrens auf einen Dritten übergeht. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert dabei ausschliesslich das Schicksal arbeitsvertraglicher Verpflichtungen (mitgemeint sind dabei die Verpflichtungen, die sich aus einem Gesamtarbeitsvertrag ergeben und gemäss Art. 333 Abs. 1bis OR noch für ein Jahr gelten), die der alte Arbeitgeber eingegangen ist, deren Fälligkeit aber erst mit oder nach der Betriebsübertragung eintritt. Das Schicksal so genannter Altlasten (Art. 333 Abs. 3 OR) wird nicht näher untersucht, weil die Sorge des potenziellen Betriebsübernehmers in casu nicht die aufgelaufenen Verpflichtungen, sondern künftig fällig werdende Forderungen der Arbeitnehmer (Löhne, Abgangsentschädigungen usw.) betrifft.

Ebensowenig wird der Begriff des Betriebs bzw. Betriebsteils (im Folgenden ist jeweils nur vom Betrieb die Rede) problematisiert, wohlwissend, dass die Auslegung dieses Begriffs entscheidend dafür ist, ob und was der neue Arbeitgeber gestützt auf Art. 333 Abs. 1 OR - seine grundsätzliche Anwendung unterstellt - schuldet.

Schliesslich äussert sich das BJ auch nicht zur allfälligen Revisionsbedürftigkeit von Art. 333 Abs. 1 OR[1].

Die Stellungnahme des BJ gliedert sich in drei Teile. In einem 1. Teil wird geschildert, wie Lehre und Rechtsprechung die Frage nach der Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR in einem Insolvenzverfahren beantwortet haben (Ziff. 2). Der 2. Teil untersucht, zu welchem Ergebnis eine grammatikalische, historische, systematische und teleologische Auslegung von Art. 333 Abs. 1 OR führt (Ziff. 3). In einem 3. Teil erörtert das BJ, ob bei der Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR allenfalls danach zu differenzieren ist, ob der Verkauf eines Betriebs im Konkurs oder im Rahmen eines Nachlassverfahrens erfolgt (Ziff. 4).

2. Lehre und Rechtsprechung

Das Bundesgericht hat sich bis heute nicht mit der Frage befassen müssen, ob Art. 333 Abs. 1 OR auch dann Anwendung findet, wenn ein Betrieb in einem Insolvenzverfahren übertragen wird.

Vom Bundesamt für Sozialversicherungen aufgefordert, Stellung zu dieser Frage zu beziehen, ging das Bundesgericht darüber hinweg und erklärte, dass der neue Arbeitgeber unabhängig von Art. 333 Abs. 1 OR für vom alten Arbeitgeber geschuldete ausstehende Sozialversicherungsbeiträge aufkommen müsse (BGE 119 V 389 ff., E. 5 und 6). Ebensowenig stützt das (unveröffentlichte) Urteil 4C.221/1998 des Bundesgerichts vom 4. September 1998 i.S. A. gegen B. den Standpunkt, dass Art. 333 Abs. 1 OR bei einem Insolvenzverfahren Anwendung findet, weil der Betriebsübergang im konkreten Fall keine konkursite, sondern bloss eine vom Konkurs bedrohte Gesellschaft betraf (E. 1c: «Zwar kann es Nachteile bringen, die Firma einer konkursbedrohten Gesellschaft fortzuführen, doch ist nicht ausgeschlossen, dass dabei Vorteile überwiegen.»).

Die Lehre ist gespalten:

· Für die Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR in einem Insolvenzverfahren sprechen sich aus (Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Thomas Geiser, Betriebsübernahmen und Massenentlassungen im Zusammenhang mit Zwangsvollstreckungsverfahren, in: Zivilprozessrecht, Arbeitsrecht - Entwicklungen im kantonalen, nationalen und internationalen Recht, Kolloquium zu Ehren von Professor Adrian Staehelin, Zürich 1997, S. 101 ff.; Franco Lorandi, Betriebsübernahmen gemäss Art. 333 OR im Zusammenhang mit Sanierungen und Zwangsvollstreckungsverfahren, in: Schuldbetreibung und Konkurs im Wandel, Basel/Genf/München 2000, S. 95 ff.; Hans Hofstetter, Zur Anwendbarkeit von Art. 333 OR bei Unternehmenssanierungen oder «Von der Kunst, über die eigenen Beine zu stolpern», Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 1998, 926 ff.; Adrian Staehelin, Zürcher Kommentar (1996), N. 3 zu Art. 333 OR.

· Gegen die Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR in einem Insolvenzverfahren sprechen sich aus (Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Alexander Vollmar, Basler-Kommentar (1998), N. 18 zu Art. 298 SchKG; Karl Spühler/Dominik Infanger, Betriebsübergänge und Arbeitsverträge in der Zwangsvollstreckung - Anwendung von Art. 333 OR im Konkurs und Nachlassvertrag? in: Schuldbetreibung und Konkurs im Wandel, Basel/Genf/München 2000, S. 225 ff.; Rico A. Camponovo, Übernahme von Arbeitsverhältnissen gemäss Art. 333 OR bei Unternehmenssanierungen, Der Schweizer Treuhänder 1998, 1417 ff.

Dem BJ sind ferner drei Gutachten bekannt, die sich zur Anwendung von Art. 333 OR in einem Insolvenzverfahren geäussert haben: Thomas Geiser, Betriebsübernahme der X AG durch die Y AG, Gutachten zur Frage der Anwendbarkeit von Art. 333 Obligationenrecht, Bern und St. Gallen Januar 2001; Frank Vischer, Rechtliche Aspekte betr. Weiterführung eines Teils der bisherigen Swissair-Flüge durch Crossair, Basel 3. Oktober 2001; Thomas Peter/Fabian Baumer (Baker & McKenzie), Anwendbarkeit von OR 333 im Nachlassverfahren; Teilweise Übernahme des Swissair-Geschäftsbetriebs durch die Crossair; Zürich 8. Oktober 2001.

3. Auslegung von Art. 333 Abs. 1 OR

3.1. Vorbemerkung

Das BJ hat sich bis heute nie offiziell zur Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR in einem Insolvenzverfahren geäussert. In einem konkret zu beurteilenden Fall schloss sich das BJ der Auffassung des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco) bzw. der involvierten Parteien an, den Standpunkt eines eigens zu diesem Zweck bestellten Gutachters (Geiser) nicht in Frage zu stellen. Dieses Gutachten bzw. die darin zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung kann das BJ selbstverständlich nicht binden.

3.2. Grammatikalische Auslegung

Dem Wortlaut von Art. 333 Abs. 1 OR ist nicht zu entnehmen, ob die Bestimmung in einem Insolvenzverfahren Anwendung findet oder nicht. Ein mögliches Insolvenzverfahren findet in dieser Bestimmung überhaupt keine Erwähnung: Es wird der Bestimmung damit weder explizit unterstellt noch explizit entzogen.

3.3. Historische Auslegung

In den Materialien (Botschaft, Protokolle der Kommissionen und der Räte) finden sich keine Hinweise darauf, wie Art. 333 Abs. 1 OR in der Zwangsvollstreckung zu handhaben ist. Immerhin stellte der Direktor des Bundesamtes für Justiz, Koller, in der vorberatenden Kommission des Ständerates einen Zusammenhang her zwischen der (zeitlich begrenzten) Weitergeltung eines Gesamtarbeitsvertrags (Art. 333 Abs. 1bis OR) und dem Wunsch des Erwerbers, den Betrieb zu restrukturieren (Ständerat, Kommission für Rechtsfragen, Prot. vom 14. Oktober 1993, S. 16). Allein diese Stelle belegt, dass niemand an die Möglichkeit dachte, dass bereits der übernommene Betrieb aus einer Zwangsverwertung stammen könnte.

Bekanntlich wurde Art. 333 Abs. 1 OR revidiert (und der Übergang der Arbeitsverhältnisse bei der Übertragung eines Betriebs für zwingend erklärt), um das schweizerische Recht in Einklang mit dem europäischen Recht bringen. Zu prüfen ist daher, wie das in diesem Zusammenhang einschlägige europäische Recht aussieht bzw. wie dieses vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) interpretiert wird.

Art. 333 Abs. 1 OR setzt die Richtlinie 77/187/EWG vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften [ABl.] Nr. L 61 vom 5.3.1977, S. 26 ff.) autonom um. In seinem Urteil vom 7. Februar 1985 in der Rechtssache 135/83, H.B.M. Abels (EuGH, Sammlung 1985, S. 469 ff.), hat der EuGH entschieden, dass die Richtlinie im Rahmen eines Konkursverfahrens keine Anwendung finde, die Mitgliedstaaten mithin frei seien, wie sie ihre Arbeitnehmer in diesem Fall schützen wollten (Rz. 16 ff.). Umgekehrt erachtete der EuGH die Richtlinie in seinem Urteil vom 12. März 1998 in der Rechtssache C-319/94, Dethier Équipement SA (Sammlung 1998, S. I-1061 ff.), im Falle einer gerichtlichen Liquidation für anwendbar (Rz. 22 ff.). Ausschlaggebend für die unterschiedliche Behandlung waren dabei nicht formale Gesichtspunkte, sondern die Ausgestaltung und das Ziel der jeweiligen Verfahren: Zielte das Verfahren auf die Liquidation einer Gesellschaft unter richterlicher Aufsicht, so fand die Richtlinie keine Anwendung. Blieb die richterliche Intervention begrenzt und ging es
im Wesentlichen darum, den Betrieb zu erhalten, fand die Richtlinie Anwendung.

3.4. Systematische Auslegung

Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass das Obligationenrecht und das Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG, SR 281.1) zwei scharf voneinander getrennte Materien regeln. Danach scheidet die Möglichkeit zum vornherein aus, sich in einem Insolvenzverfahren auf Art. 333 Abs. 1 OR zu berufen. Eine solche Sicht der Dinge lehnt das BJ - weil formalistisch - ab. Das Gleiche gilt, wenn aus Art. 335e OR - die Bestimmung ist zusammen mit dem revidierten Art. 333 Abs. 1 OR entstanden; sie erklärt die Vorschriften über Massenentlassungen nicht für anwendbar, wenn eine Betriebseinstellung auf eine gerichtliche Entscheidung zurückgeht - der Umkehrschluss gezogen wird, dass Art. 333 Abs. 1 OR, der keine solche Ausnahme vorsieht, in einem Insolvenzverfahren anwendbar sei.

Im Rahmen einer richtig verstandenen systematischen Auslegung ist zu fragen, ob es (andere) Fälle gibt, wo es um das Schicksal von Verträgen geht, wenn Rechte an einen Dritten übergehen. Dabei fällt der Blick unweigerlich auf Miete und Pacht.

Nach Art. 261b Abs. 2 OR bewirkt die Vormerkung des Mietvertrags, dass jeder neue Eigentümer dem Mieter gestatten muss, das Grundstück entsprechend dem Mietvertrag zu gebrauchen. Die Struktur von Art. 261b Abs. 2 OR deckt sich damit mit jener von Art. 333 Abs. 1 OR: Während hier der Erwerber eines Betriebs erwähnt wird, wird dort der Erwerber eines Grundstücks angehalten, einen nicht von ihm geschlossenen Vertrag zu respektieren.

Ob die Vormerkung des Mietvertrags auch in einem Insolvenzverfahren die in Art. 261b Abs. 2 OR beschriebene Wirkung entfaltet, hängt davon ab, ob vorrangig Berechtigte befriedigt werden können. Zu diesem Zweck wird ein Doppelaufruf durchgeführt (Art. 142 SchKG); reicht der Verwertungserlös nicht aus, so muss der Mieter trotz Vormerkung eines Mietvertrags, der möglicherweise eine wesentlich längere Mietdauer vorsieht, auf den nächsten gesetzlichen Kündigungstermin ausziehen (zuletzt BGE 125 III 37 ff.).

Im Ergebnis bedeutet dies, dass ein im Obligationenrecht statuierter Übergang vertraglicher Verpflichtungen auf den Erwerber einer Sache nicht geeignet ist, deren Behandlung in einem Insolvenzverfahren zu präjudizieren. Ob (und in welchem Umfang) solche Verpflichtungen «überleben», hängt vom Konkursrecht ab.

3.5. Teleologische Auslegung

Das Ziel von Art. 333 Abs. 1 OR besteht darin, den Arbeitnehmer bei der Übertragung eines Betriebs zu schützen. Es ist daher zu fragen, ob bzw. inwieweit die Nichtanwendbarkeit von Art. 333 Abs. 1 OR geeignet ist, diesen Schutz zu kompromittieren. Die Betrachtung muss dabei neben rechtlichen auch wirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigen.

Geht man von der Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR im Insolvenzverfahren aus, so wird der neue Arbeitgeber die damit verbundenen Kosten vom Kaufpreis in Abzug bringen und entsprechend weniger bezahlen.

Beispiel: Der erworbene Betrieb hat einen Wert von 100 Millionen Franken. Die Bindung an die bestehenden Arbeitsverhältnisse bis zu Änderungskündigungen - unterstellt, diese seien überhaupt zulässig - haben Kosten in der Höhe von 50 Millionen zur Folge. In diesem Fall wird der Erwerber nur bereit sein, für den Betrieb 50 Millionen Franken zu bezahlen.

Anders sieht es aus, wenn die veranschlagten Kosten höher als der Wert des Betriebs sind. Trifft dies zu, wird die Übernahme scheitern. Der Betrieb muss in der Folge so weit aufgespalten werden, bis ausgeschlossen werden kann, dass der Erwerb der Aktiven als Betrieb nach Art. 333 Abs. 1 OR qualifiziert wird. Die Folgen sind absehbar: Es droht ein suboptimales Verwertungsergebnis.

Wie präsentiert sich die Sache, wenn Art. 333 Abs. 1 OR in einem Insolvenzverfahren keine Anwendung findet? In diesem Fall übernimmt der neue Arbeitgeber den Betrieb für 100 Millionen Franken. Die Arbeitnehmer, die eine Lohneinbusse von 50 Millionen Franken erleiden, werden diese im gegen den früheren Arbeitgeber gerichteten Insolvenzverfahren geltend machen. Gestützt auf Art. 219 Abs. 4 SchKG handelt es sich dabei um eine Forderung, die in der Ersten Klasse zu kollozieren ist, d. h. die Arbeitnehmer haben als erste Anspruch darauf, sich aus dem Verkaufserlös zu befriedigen.

Reicht der Verwertungserlös nicht aus, die geschuldeten Löhne zu zahlen, erleiden die Arbeitnehmer einen Verlust, der - zumindest teilweise - von der Arbeitslosenversicherung gedeckt ist. Sie stehen in diesem Fall nicht anders da, als wenn wegen der Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR der Betrieb nicht übertragen werden konnte.

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass auch die teleologische Auslegung ein indifferentes Bild zeigt: Der Schutz des Arbeitnehmers hängt mit andern Worten nicht davon ab, ob Art. 333 Abs. 1 OR in der Zwangsvollstreckung Anwendung findet oder nicht. Zwar ist einzuräumen, dass im Falle der Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR ein suboptimales Verwertungsergebnis droht. Wegen der Privilegierung der Arbeitnehmerforderungen leiden darunter aber nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) die Arbeitnehmer, sondern die übrigen Gläubiger, deren Forderungen nicht besonders gesichert sind.

4. Differenzierungen

Es stellt sich - im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH - die Frage, ob die Zwangsvollstreckung überhaupt als einheitlicher Anknüpfungstatbestand gelten kann, der entweder zur Anwendbarkeit oder zur Nichtanwendbarkeit von Art. 333 Abs. 1 OR führt. Gute Gründe sprechen für eine differenzierte Betrachtung. Eine Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR ist dort am Platz, wo der bisherige Arbeitgeber autonom darüber befindet, an wen und zu welchen Bedingungen er einen Betrieb verkauft und wo ihm insbesondere auch frei steht, was er mit den dabei gelösten Mitteln anfangen will. Eine Anwendung von Art. 333 Abs. 1 OR drängt sich hingegen dann nicht auf, wo der Arbeitgeber nur noch unter (behördlicher) Aufsicht handeln kann, er mit andern Worten gar nicht mehr entscheiden kann, wie er den Kaufpreis einsetzen will. In diesem Fall übernimmt die Behörde die Verantwortung dafür, dass die Forderungen der Arbeitnehmer im Insolvenzverfahren richtig befriedigt werden.

Zu kurz greift es, den für die Nichtanwendung von Art. 333 Abs. 1 OR ausschlaggebenden Autonomieverlust zwingend von der Konkurseröffnung abhängig zu machen. Bereits die Nachlassstundung kann zur Folge haben, dass der Schuldner nur noch mit Zustimmung des Sachwalters oder gar des Richters handeln kann (Art. 298 SchKG). Auch in diesem Fall sollte Art. 333 Abs. 1 OR nicht beachtet werden müssen.

5. Ergebnis der juristischen Analyse

Die grammatikalische, historische, systematische und teleologische Auslegung liefern keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob Art. 333 Abs. 1 OR in einem Insolvenzverfahren Anwendung findet oder nicht. Das BJ interpretiert diesen Befund so, dass Raum für die Nichtanwendung dieser Bestimmung besteht. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das Verfahren unter behördlicher Aufsicht erfolgt, so dass sichergestellt ist, dass der Verwertungserlös vorerst der Befriedigung der Forderungen der Arbeitnehmer dient, deren Arbeitsverträge vorzeitig aufgelöst werden.

6. Folgerungen für den konkreten Fall

Angesichts des Ergebnisses seiner Abklärungen ist das BJ der Auffassung, dass Art. 333 Abs. 1 OR im konkreten Fall nicht zur Anwendung gelangen sollte, weil der Zweck dieser Bestimmung - der Schutz der Arbeitnehmer - selbst im Falle der Anwendung nicht erreicht werden kann. Es ist im Gegenteil zu befürchten, dass bei Anwendung dieser Bestimmung die Übernehmerin der Betriebsteile selber in erhebliche Schwierigkeiten gerät und damit die Fortführung des Betriebs überhaupt in Frage gestellt wird.

[1] Das BJ verweist diesbezüglich auf die Parlamentarische Intervention 97.407 «Massenentlassungen. Wahrung der Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen» (Gross Jost). Die im Anschluss an diesen Vorstoss durchgeführte Vernehmlassung hat gezeigt, dass eine Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer eine Übernahme von Arbeitsverhältnissen (Art. 333 Abs. 1 OR) in der Zwangsvollstreckung befürwortet, es aber ablehnt, dass der neue Arbeitgeber in diesem Fall solidarisch für Forderungen haftet, die bei Betriebsübernahme bereits fällig waren (Art. 333 Abs. 3 OR).

Dokumente des BJ