S. 371 / Nr. 61 Organisation der Bundesrechtspflege (d)

BGE 58 I 371

61. Urteil vom 26. November 1932 i. S. Bernina-Bahn A. G. gegen Iseppi &
Genossen.

Regeste:
1. Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verfassungswidrigkeit eines
kantonalen Erlasses allgemein verbindlicher Natur ist sowohl dem Erlasse
selbst gegenüber als auch bei dessen Anwendung zulässig.

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2. Zur Beschwerde legitimiert ist im letzteren Falle indessen nur wer dadurch
in seinen rechtlich geschützten Interessen persönlich verletzt ist, dagegen
nicht, wer lediglich durch Auswirkungen der behördlichen Massnahme mittelbar
betroffen - wird.

A. - Das Strassengesetz des Kantons Graubünden vom 20. Februar 1927 gestattet,
abgesehen von einzelnen Sonderfällen (Art. 15, Art. 17 Abs. 3-5), den Verkehr
mit Personenautomobilen bis zu acht Sitzplätzen auf allen Pass-, Tal- und
Kommunalstrassen (Art. 16 Abs. 1). Lastautomobile sind nur unter
Beschränkungen zugelassen, nämlich a. zum Anschluss an die nächste Bahnstation
in Talschaften, die von keiner Bahn bedient werden, auf Grund einer
Volksabstimmung der Talschaft (Art. 17 Abs. 1), b. für den Verkehr innerhalb
einer Gemeinde auf Grund einer Zulassung durch die Gemeinde, wobei der Kleine
Rat die erforderliche Bewilligung erteilt unter Berücksichtigung der
Allgemeinheit und der vom Kanton subventionierten Bahnen (Art. 17 Abs. 2).
Nach den grossrätlichen Ausführungsbestimmungen zum Strassengesetz vom 2.
Dezember 1927 gelten als Personenauto mobile im Sinne des Art. 16
Strassengesetz Fahrzeuge bis zu acht Sitzplätzen (Art. 24 Ziff. 1), als
Motorlast wagen Fahrzeuge, die bei voller Belastung ein Gesamtgewicht von 3000
kg. übersteigen und einige andere besonders bezeichnete Fahrzeuge. Leichtere
Motorfahrzeuge mit Ladebrücke gelten als Lieferungswagen und fallen unter die
Kategorie Lastwagen (Art. 24 Ziff. 2). In der Vollziehungsverordnung des
Kleinen Rates zum Strassengesetz wird bestimmt (§ 37 in der Fassung vom 30.
April 1929): «a) Der Warentransport mit Personenautomobilen ist gestattet,
doch dürfen weder am Motorfahrzeug noch an seinen Bestandteilen diesen
Transport erleichternde Änderungen vorgenommen u erden. b) Hin gegen ist der
gewerbsmässige Warentransport mittelst Personenautomobils, unter Vorbehalt der
Beförderung des Reisegepäcks der Wageninsassen, untersagt. c) Muster-,
Dekorations- und Reklameautomobile, welche speziell für

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diesen Zweck konstruiert sind und verwendet werden, sind gestattet. Die
Mitführung von Handelswaren ist ihnen aber verboten.»
B. - Die Beschwerdebeklagten Otto Iseppi, Enrico Triacca und Pietro Paganini,
Gemüsehändler in Brusio, benützen für die Belieferung ihrer Kunden im
Oberengadin Automobile, die als Personenwagen eingerichtet sind, nämlich
Triacca einen neu erstellten achtplätzigen Personenwagen offen und mit
Verdeck, Paganini und Iseppi in achtplätzige Personenwagen umgebaute
Lastwagen, bei denen die Ladebrücke entfernt und durch eine Personenkarosserie
ersetzt worden ist. Das Baudepartement des Kantons Graubünden untersagte die
Warentransporte mit diesen Fahrzeugen. Dagegen hat sie der Kleine Rat auf
Beschwerde der betroffenen Gemüsehändler hin zugelassen. Er stellte fest, die
Motorfahrzeuge des Iseppi, des Triacca und des Paganini seien «im Sinne von §
37 der kantonalen Verordnung zum Strassengesetz als Personenautomobile zu
qualifizieren, weshalb der Warentransport mittelst dieser Fahrzeuge auch auf
Strassen, die den Last und Lieferungswagen verschlossen sind, gestattet ist.»
C. - Gegen diesen Entscheid erhebt die Berninabahn A.-G. in Poschiavo die
staatsrechtliche Becchwerde beim Bundesgericht; sie beantragt: «1. Das
Bundesgericht wolle erkennen, dass die Zulassung des Personenautos für den
Transport von Waren gemäss § 37 der Vollziehungsverordnung mit dem
grundsätzlichen Verbot des Lastautomobils des kantonalen Strassengesetzes,
unter Vor behalt der gesetzlichen Ausnahmen (Art. 16 und 17) unvereinbar und
deshalb verfassungswidrig ist. - 2. Eventuell wolle das Bundesgericht
erkennen, dass die Zulassung des Personenautomobils zum gewerbsmässigen
Transport von Waren, die zum Verkauf im Détail bestimmt sind, mit dem
kantonalen Strassengesetz und mit § 37 der Verordnung zum Strassengesetz
unvereinbar und deshalb verfassungswidrig ist. - 3. Das Bundesgericht wolle
infolge dessen den angefochtenen Entscheid des Kleinen Rates

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vom 23. Juni 1931 als verfassungswidrig aufheben und die Verfügung des
kantonalen Bau- und Forstdepartementes vom 31. März 1931 in gleicher Sache
bestätigen. - Unter Kostenfolge für die Beschwerdeführer erster Instanz.»
Die Beschwerdeführerin beruft sich auf Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV und 29 KV, gegen die der
angefochtene Entscheid verstosse insofern, als der Kleine Rat einen
Warentransport gestatte, der mit dem Lastwagenverbot des Gesetzes unvereinbar
sei. Durch die Zulassung des Warentransportes mit Personenwagen verletze der
Kleine Rat den Grundsatz der Rechtsgleichheit, da er auf die äussere Gestalt
statt auf den Zweck des Wagens abstelle. Die Massnahme verstosse gegen den
Zweck der im Strassengesetz getroffenen Ordnung, die bestimmt sei,
volkswirtschaftliche Interessen zu schützen, nämlich diejenigen der
Öffentlichkeit im allgemeinen und diejenige der vom Kanton subventionierten
Bahnen im besonderen. Unter diesem Gesichts punkte dürfe nicht unterschieden
werden zwischen einem wirklichen Last- und Lieferungswagen und einem den
gleichen Dienst versehenden «mimikrierten» Personenwagen. Übrigens habe der
Kleine Rat die Verordnung an sich unrichtig angewendet, indem er die
Bewilligung für einen gewerbsmässigen Warentransport mit Motorfahrzeugen
erteilt habe, der durch Art. 37 VO selbst ausgeschlossen werde.
D. - Die Beschwerdegegner haben kostenfällige Abweisung der Beschwerde aus
formellen und materiellen Gründen beantragt, aus formellen Gründen, weil die
Beschwerdeführerin als unbeteiligte Drittperson zur Beschwerde nicht
legitimiert sei, materiell weil sich Art. 37 der Verordnung und deren
Anwendung durch den Kleinen Rat im konkreten Falle durchaus im Rahmen der
gesetzlichen Ordnung halte. Die Beschwerdeführerin habe übrigens selbst dazu
Anlass gegeben, dass die schweizerischen Gemüseproduzenten in Brusio zu dem
von ihr beanstandeten Transport ihrer Produkte übergegangen seien, weil sie
ausländischen Grossexporteuren von

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Früchten und Gemüsen für ihre Lieferungen ins Engadin Frachtermässigungen
eingeräumt habe, die sie den schweizerischen Produzenten verweigere.
E. - Der Kleine Rat des Kantons Graubünden beantragt Abweisung der Beschwerde.
Art. 37 der Verordnung habe den Zweck, dem Besitzer eines nach Gesetz zum
freien Verkehr auf allen Pass-, Tal- und Kommunalstrassen zugelassenen
Personenautomobils einen möglichst praktischen und seiner Erwerbstätigkeit
dienlichen Gebrauch zu gestatten, das gesetzliche Lastautomobilverbot werde
dadurch nicht beeinträchtigt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verfassungswidrigkeit eines
kantonalen Erlasses allgemein verbindlicher Natur ist nach feststehender
Praxis nicht nur gegenüber dem Erlasse selbst, sondern auch bei dessen
Anwendung im einzelnen Falle zulässig. Insofern kann die Verfassungsmässigkeit
des am 30. April 1929 revidierten Art. 37 der Verordnung des Kleinen Rates zum
Strassengesetz des Kantons Graubünden auch heute noch angefochten werden (BGE
46 I S. 289).
2.- Voraussetzung ist dabei allerdings, dass der Beschwerdeführer durch die
Einzelverfügung, die er zum Gegenstand seiner Beschwerde macht, betroffen, d.
h. in seinen rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt worden ist (Art.
178 Ziff. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
OG). Denn die staatsrechtliche Beschwerde ist nicht dazu bestimmt,
Fragen der Gesetzesanwendung allgemein aufzuwerfen und deren Entscheidung
durch das Bundesgericht zu veranlassen. Sie dient dem Schutze derjenigen, die
durch Massnahmen der Behörden in ihren verfassungsmässigen Rechten persönlich
verletzt werden (BGE 56 I S. 159 ff; betr. die direkte Anfechtung allgemein
verbindlicher Beschlüsse vgl. BGE 48 I S. 265, S. 595). Die Legitimation zur
staatsrechtlichen Beschwerde kann deshalb nur mit der Behauptung begründet
werden, dass der Beschwerdeführer persönlich durch eine

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Massnahme der Behörden. in seinen rechtlich geschützten Interessen verletzt
werde (BGE 48 I S. 225). Diese Voraussetzung trifft hier nicht zu.
Eine Verfügung, welche die Beschwerdeführerin formell prozessual betreffen
würde, liegt nicht vor. Der Entscheid des Kleinen Rates, gegen den sich die
Beschwerde richtet, ist einzig den Beschwerdegegnern gegenüber ergangen;
diesen wurde die Verwendung ihrer als Personenwagen charakterisierten
Automobile zum Warentransport im Sinne von Art. 37 der kantonalen Verordnung
bewilligt. Am Bewilligungsverfahren war die Beschwerdeführerin direkt nicht
beteiligt. Sie hatte lediglich den Anstoss dazu gegeben dadurch, dass sie
durch eine Anzeige die Aufmerksamkeit der Behörden auf den ihrer Meinung nach
gesetzwidrigen Gemüsetransport der Beschwerdegegner hinlenkte. Eine formelle
Beteiligung am Verfahren wird aber mit einer solchen Anzeige, die jedermann
erstatten kann, nicht begründet.
Auch sachlich fehlt eine Interessenlage, die die Legitimation der
Beschwerdeführerin zur staatsrechtlichen Beschwerde zu begründen vermöchte.
Die Befugnis der Kantone, den Automobilverkehr auf ihrem Gebiet zu ordnen,
beruht auf der kantonalen Strassenhoheit. Den Kantonen wurde von jeher das
Recht zuerkannt, als Träger dieses Hoheitsrechtes das Kantonsgebiet für
Automobile ganz zu schliessen, oder den Automobilverkehr teilweise zuzulassen
unter Wahrung des Grundsatzes der Rechtsgleichheit und der übrigen
bundesrechtlichen Beschränkungen (BGE 46 I S. 294 f.). Der Kanton Graubünden
hat hievon in der Weise Gebrauch gemacht, dass er, abgesehen von
Sonderregelungen für verschiedene Verkehrsarten, die hier nicht in Frage
stehen, den Verkehr von Personenautomobilen bis zu acht Plätzen auf allen
öffentlichen Strassen gestattet, denjenigen von Lastautomobilen grundsätzlich
verboten hat, wobei, neben Gesichts punkten der Strassenpolizei, allerdings
auch der Gedanke eines Schutzes der Bahnen vor der Automobilkonkurrenz

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mit in Betracht fiel. Es konnte sich aber nicht um das private Interesse der
einzelnen Bahnunternehmungen handeln, sondern nur um das allgemeine
öffentliche Interesse an der Erhaltung der als notwendiges Verkehrsinstrument
anerkannten und deshalb mit bedeutenden staatlichen Mitteln subventionierten
bündnerischen Bahnen, der Rhätischen Bahn, der Berninabahn und der Misoxer
Bahn (vgl. Urteil vom 22. Januar 1932 i. S. Kuoni, nicht publiziert). Die
Beschwerdeführerin hat denn auch nicht behauptet, dass ihr persönlich aus dem
Strassengesetz ein Anspruch darauf zukomme, dass der Automobilverkehr, vor
allem der Güterverkehr in einer bestimmten Weise geregelt werde, etwa im Sinne
einer vollständigen Unterdrückung jeden Gütertransportes auf Automobilen. Sie
beruft sich selbst nur auf das Interesse der Allgemeinheit an der richtigen
Durchführung der unter dem Gesichtspunkte der Strassenhoheit erlassenen
Verkehrsordnung. Die Wahrung dieses allgemeinen Interesses ist aber nicht
Sache der Privaten, sondern der Behörden, welche zur Durchführung des Gesetzes
berufen sind und dabei u. a. auch den Ausgleich zwischen allfällig
widerstrebenden Interessen der mittelbar oder unmittelbar beteiligten Privaten
zu treffen haben. Jedenfalls sind die Privaten, denen die Auswirkung einer im
öffentlichen Interesse erlassenen Verkehrsordnung nur mittelbar zugute kommt,
nicht berechtigt, unter Berufung auf gesetzgebungspolitische Gesichtspunkte
allgemeiner Natur, Verfügungen, die die zuständigen Behörden getroffen haben,
mit der staatsrechtlichen Beschwerde beim Bundesgericht anzufechten (BGE 48 I
S. 225
ff, vgl. auch 56 I S. 105 f.).
Demnach erkennt das Bundesgericht: Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.